Mit dieser Neuaufstellung will das MKG dem verbreiteten Vorurteil entgegenwirken, der Islam sei eine in sich geschlossene Welt, die durch ein einheitliches Erscheinungsbild gekennzeichnet ist. Mit ausgewählten Sammlungsobjekten erzählt das MKG von der Vielfalt ihrer Gebrauchsweisen und ihrer Bedeutungen in alltäglichen, rituellen und künstlerischen Zusammenhängen. Ziel der Neupräsentation der Sammlung Islamische Kunst ist es, mit diesen Erzählsträngen und Zugängen eine komplexe Zivilisation nachzuzeichnen, die über Epochen und Grenzen hinweg immer in Bewegung und im Austausch war und die das Abendland mitgeprägt hat. Die kulturelle Vielfalt islamisch geprägter Kulturen zeigt sich bis heute in der unterschiedlichen Einstellung zur Figurendarstellung oder zur religiösen Praxis. Auch im Bereich des Glaubens existieren verschiedene Interpretationen und Wege.
Was heißt Islamische Kunst?: Die Bezeichnung Islamische Kunst meint die Kunst islamisch geprägter Länder – von Spanien bis Indien und von Nordafrika bis Zentralasien – mit ganz unterschiedlichen Traditionen. Sie ist außerdem geprägt durch vielfältigen Kulturaustausch. In der Frühzeit wird das byzantinische, spätantike und sasanidische Erbe verarbeitet. In der Folgezeit führen Handel, politische Kontakte und die Eroberungen zu Impulsen und kulturellen Verflechtungen. Die freiwilligen oder erzwungenen Wanderungen der Künstler bewirken eine schnelle Verbreitung kunsthandwerklicher Techniken und Stile über die gesamte islamische Welt. Die islamisch geprägte Kultur ist vor allem eine Objektkultur, die Künstler konzentrieren sich aus religiösen Gründen auf die Schaffung von Gegenständen und nicht auf die Gestaltung bildnerischer Werke. Entgegen der verbreiteten Annahme stammt der größere Teil der Objekte aus weltlichem Zusammenhang, abgesehen vom Koran gibt es keine rituellen Objekte für die Glaubenspraxis. Auftraggeber sind die weltlichen Herrscher und Fürsten. Die Nutzung der Objekte ist oft nicht festgelegt. So kann ein Teppich zum Gebet dienen, aber auch für den Wohnbedarf. Eine den gesamten Kulturraum einende Bedeutung nimmt die Schrift ein. Mit arabischen Buchstaben werden viele Sprachen der islamischen Welt geschrieben. Die Schrift ist zusammen mit dem Ornament ein allgegenwärtige visueller Code der islamisch geprägten Kulturen.
Erbe und Wandel: Bereits über Jahrtausende vollziehen sich in Vorderasien entscheidende Entwicklungen. Die Menschen bauen die ersten Städte und erfinden die Schrift. In dieser Region nimmt die Ausbreitung des Islam ihren Anfang. Seit 630 n. Chr. kommt es zur Konfrontation arabischer Stämme mit dem oströmischen Reich und dem der orientalischen Sasaniden. Der Sieg über diese Dynastie 651 markiert das Ende der Antike im Orient. Syrien, Palästina und das Zweistromland befinden sich unter arabischer Kontrolle. Die neuen Machthaber bringen ihren Glauben – den Islam – mit, achten und übernehmen aber auch die vielfältigen Traditionen der Bezwungenen. Man bedient sich eines Verwaltungssystems nach oströmischem Vorbild, selbst die griechische Sprache bleibt noch Jahrzehnte in Gebrauch. Christen, Juden und die Zoroastrier in Persien dürfen ihren Glauben weiter ausüben. Das orientalische Erbe und der Wandel sind dokumentiert in der Verwendung der Schrift, in Produktion und Gebrauch von Luxusgütern und in der Abwendung von der vielgestaltigen Götterwelt des Orients. Die Ausstellung zeigt Beispiele spätantiker und arabischer Schrift aus der frühislamischen Zeit. Die große Bedeutung der Schrift äußert sich auch im Koran, auf Keramiken und in Gedichtbüchern.
Wissenschaft und Islam: Bagdad wird im 8. Jahrhundert ein Weltzentrum der Kultur und Wissenschaft. Gelehrte, darunter auch Christen und Juden, übersetzen griechische Werke der Medizin, Astronomie, Mathematik und Philosophie. Im christlichen Mittelalter hingegen wird das wissenschaftliche Erbe aus theologischen Gründen verbannt und gerät in Vergessenheit. Es ist die islamische Welt, die eine Schlüsselrolle in der Bewahrung des antiken Wissens übernimmt. Die Schriften von Aristoteles, Galen, Euklid oder Ptolemäus sind für die islamischen Gelehrten Grundlage eigenständiger Forschungen, die über Sizilien und Spanien in das Abendland gelangen. Die arabische Mathematik macht Europa mit den hinduistischen Ziffern bekannt. Sie werden deshalb noch heute fälschlicherweise als arabische Zahlen bezeichnet. Hinzu kommen neue, durch die islamische Religion begründete Aufgaben wie die Berechnung der Gebetsrichtung, der fünf Betzeiten oder Pilgerwege. So dienten Astrolabien, die von muslimischen Astronomen aus antiken Messgeräten weiterentwickelt wurden, zum Bestimmen der Gebetsrichtung (die immer nach Mekka zeigen muss) oder zur Berechnung der Gebetszeiten.
Vielfalt und Wechselwirkungen: Am Beispiel der Keramik – die im Vergleich zu Textilien, Holz- oder Metall-Objekten am umfangreichsten erhalten ist – ist die kulturelle Komplexität der islamischen Kunst nachvollziehbar. Die Ausstellung zeigt Spitzenstücke, aber auch einfaches Gebrauchsgeschirr und Luxuswaren aus verschiedensten Regionen wie Irak, Iran, Ägypten, Syrien, Zentralasien oder Spanien. Die unterschiedliche Gestaltung und Dekoration der Gefäße ist das Ergebnis lokaler Traditionen und Wechselwirkungen durch den Handelsaustausch und Wissenstransfer entlang der Seidenstraße und auf dem Seeweg, durch die Eroberung fremder Gebiete und die länderübergreifende Mobilität der Kunsthandwerker. So spielte China für die Entwicklung der islamischen Keramik seit Beginn der islamischen Formierung im 8. Jahrhundert als Inspirationsquelle und Vorbild – etwa für die Blauweiß-Dekore – eine entscheidende Rolle. Das verstärkte sich mit der Errichtung eines panasiatischen Mongolenreichs im 13. und 14. Jahrhundert. Umgekehrt erfanden die muslimischen Töpfer Techniken, die in Europa bewundert und nachgeahmt wurden.
Die Darstellung des Göttlichen: Nach islamischer Vorstellung ist Gott in seiner Transzendenz nicht darstellbar. Der Koran ist im Gegensatz zur Tora und der christlichen Bibel nicht mit Figuren illustriert. Im Islam kommt der Schrift und dem Ornament eine zentrale Bedeutung zu. Die Schrift gilt nach muslimischem Glauben als eine göttliche Erfindung, die immer auch einen religiösen und segenspendenden Status besitzt. Sie erscheint allumfassend in der Architektur, auf Keramik- oder Metallgefäßen und Textilien. Eng mit der Schrift verknüpft ist das flächendeckende Ornament. Es ist nicht als bloßer Schmuck zu verstehen, sondern verweist den Betrachter auf die Ewigkeit. Neben Schrift und Ornament gilt auch das Licht als göttliches Symbol. Als Beispiele zeigt die Ausstellung eine religiöse Standarte und zwei marokkanische Wandbehänge aus Seidenbrokat sowie die metallisch glänzende Lüstermalerei auf Fliesen und Gefäßen, die dem Licht der Sonne verglichen wird, das auf die himmlische Schöpfung verweist.
Figur und Bild: Ein unterschiedlicher Umgang mit Figuren zeigt sich schon in der Frühzeit des Islam. Mohammed entfernt die heidnischen Götterbildnisse aus der Kaaba in Mekka, um den altarabischen Bau zu einem der heiligsten Orte des Islam zu machen. Auch in den zwei großen Sakralbauten des 7./8. Jahrhunderts, dem Felsendom in Jerusalem und der Großen Moschee von Damaskus finden sich in den Wandmosaiken keine Figuren mehr. Gleichzeit entstehen jedoch Kalifenpaläste in der syrisch-jordanischen Wüste mit Skulpturen und Wandmalereien, die mit zahlreichen Figuren ausgestattet sind. Frauen sind sogar halb entblößt abgebildet. Doch die Vermeidung der Darstellung von Lebewesen gilt nur für den religiösen Bereich, Gläubige sollen keine Götter und Idole anbeten. Im Koran wird kein Figurenverbot formuliert. Nur in den Hadithen, den überlieferten Aussprüchen Mohammeds heißt es, dass die Engel kein Haus betreten, in dem es Figuren gibt. Dennoch entstehen seit dem 13. Jahrhundert im religiösen Kontext auch Darstellungen des Propheten Mohammed. Nur Allah wird nie abgebildet. Die islamischen Figurendarstellungen entstehen unter dem Eindruck der spätantiken, byzantinischen und sasanidischen Kunst wie dem chinesischen Einfluss durch die Mongolenherrschaft. Und es sind vor allem die schiitischen Safawiden im Iran, die einen dynastischen Stil mit einer Fülle an Figurendarstellungen entwickeln. Herausragende Beispiele für sehr lebendige Figurendarstellungen sind ein Fliesenbogen aus dem türkischen Iznik (16. Jh.) und ein persischer Teppich mit Tieren und Spiralranken aus dem 16. Jahrhundert. Der neu restaurierte Teppich wird erstmals in seiner ursprünglichen Größe von fast sechs Metern Länge ausgestellt.
Herrschaft und Design: Das osmanische Reich (ca.1300-1923) ist das am längsten bestehende Weltreich des Islam. Im 16. Jahrhundert erlangt es unter Sultan Süleyman I. seine größte Ausdehnung und eine kulturelle Blüte. Die weltoffene Regierung in Istanbul stellt religiöse Minderheiten wie Christen und Juden unter ihren Schutz. Die osmanische Herrschaft beruht auf einer zentralisierten Staatsverwaltung. Sie bestimmt auch die Organisation der künstlerischen Produktion. Die Hofwerkstätten, nakashane, in Istanbul sind streng hierarchisch aufgebaut und unterliegen staatlicher Kontrolle. Die Ateliers für Buchkunst nehmen den höchsten Rang ein und sind die Designstudios des Reichs. Sie verwenden ein Vokabular, das als Vorlage für alle Bereiche des Kunsthandwerks dient und bis in die fernsten Provinzen gilt. So entsteht ein einheitlicher Reichsstil. Er ist bestimmt von Ordnung und Rationalität und der Bevorzugung des Ornaments, ein Stil, der sich in den Fliesenwänden, Textilien und Objekten der Buchkunst in der Ausstellung wiederspiegelt.
Lass mich erzählen …: Eine wesentliche Konstante der menschlichen Kultur ist das Erzählen von Geschichten. In der islamisch geprägten Kunst finden sich traditionelle Erzählungen vielfach auf historischen Objekten, etwa in der Buchkunst oder als schmückendes Dekor auf verschiedensten Materialien. Noch heute sind sie ein wichtiger Bezugspunkt für junge, multimedial arbeitende Künstlerinnen und Künstler, die überlieferte Erzählungen ebenso verhandeln wie aktuelle gesellschaftspolitische Themen oder subjektive Erinnerungen. Interkulturelle Wechselwirkungen spiegeln sich in der Wiedergabe der Stoffe und in der Wahl der Ausdrucksmittel. Die Inhalte spannen dabei den Bogen vom europäischen Blick auf den „märchenhaften Orient“ bis zur Adaption westlicher Helden. Comics übertragen die ornamental geprägte, grafische Bildsprache in ein modernes Medium, der computerbasierte Animationsfilm verwendet Figuren, die sich aus der traditionellen Kalligrafie entwickeln.
Die Aladin-Episode aus Lotte Reinigers (1899-1981) frühem Silhouettenfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed von 1926 zeigt beispielhaft die europäische Rezeption des „märchenhaften Orients“ auf Grundlage der Vorstellungswelt aus Tausendundeiner Nacht. Die vielfach prämierte pakistanische Fernsehserie Burka Avenger überträgt das westliche Superhelden-Motiv in einen islamischen Kontext. Die Lehrerin Jiya kämpft, geschützt durch das „Superheldenkostüm“ der Burka, als Burka Avenger für Bildung und Gerechtigkeit. Zu ihren Waffen gehören Bücher und Stifte, mit denen sie sich für Aufklärung und Selbstbestimmung einsetzt. Die Burka als Symbol der weiblichen Unterdrückung wird dabei subversiv umcodiert, um Diskriminierung zu kritisieren und eine positive Vorbildfunktion zu vermitteln.
Der Kurzfilm Simorgh des gebürtigen Iraners Meghdad Asadi Lari setzt das mittelalterliche Versepos Die Konferenz der Vögel des persischen Dichters Farid al-Din Attar (1136–1220) in einen zeitgenössischen Animationsfilm um. Die Figuren entwickelt er aus der traditionellen Kalligrafie und dem ornamentalen Design. Auch die libanesische Comicautorin Zeina Abirached (*1981) greift Elemente der traditionellen Bildsprache der islamischen Kunst auf. In ihrer autobiografischen Graphic Novel Das Spiel der Schwalben (2013) erzählt sie vom familiären Alltag während des Bürgerkriegs im konfessionell vielfältigen Beirut der 1980er Jahre. Mit starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, geometrischen Bildmustern und expressivem Strich stellt sie den äußeren Spuren des Krieges ihre eigene Sicht gegenüber, die jenseits von ausgestorbenen Straßenzügen und zerbombten Gebäuden, Solidarität und menschliche Wärme zeigt. Die Berliner Comiczeichnerin Tuffix (*1990) berichtet in ihren 2009 begonnenen Webcomics unbeschwert vom Alltag einer Muslima in Deutschland, macht Klischees sichtbar und wendet sich mit humorvoller Beobachtungsgabe gegen Vorurteile und Diskriminierung.
Begleitprogramm: Zur Neueinrichtung der Sammlung Islamische Kunst bietet das MKG ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Gesprächen, Führungen, Vorträgen, einem Kalligrafie-Workshop und Moschee-Tour. Mehr Informationen unter www.mkg-hamburg.de.
Die Neuaufstellung wird ermöglich durch die großzügige Unterstützung folgender Saalpaten: Jürgen und Monika Blankenburg-Stiftung, Veronika und Volker Putz-Stiftung, Freunde von Peter Schmidt, Justus Brinckmann Gesellschaft und Herbert-Pumplün-Stiftung. Die Agnes Gräfe Stiftung ermöglichte die denkmalgerechte Rekonstruktion der Ausstellungsräume. Die Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. finanziert einen Stipendiaten für interreligiösen Dialog im MKG im Rahmen des Projektes „Kulturelle Vielfalt und Migration“. Für die Neueinrichtung der Sammlung Islam konnten aus Mitteln der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen vier herausragende Objekte erworben werden.
Di – So 10 – 18 Uhr, Do 10 – 21 Uhr | Eintritt: 10 € / 7 €, Do ab 17 Uhr 7 €, bis 17 Jahre frei
Copyright © 2024 findART.cc - All rights reserved