Basierend auf ähnlichen Versuchsanordnungen ihres polnisch- amerikanischen Kollegen Solomon Eliot Asch, die der Ge staltpsychologe in den 1950er -Jahren in den USA durchgeführt hatte und deren Ergebnis das schockierende Ausmaß manipulativen Konformitätsdrucks belegte, übertrug Mukhina das Experiment in den 1970er -Jahren in die UdSSR. Dort waren die Forscherinnen und For scher überzeugt von der Widerstandsfähigkeit ihrer Probanden. Doch entgegen der gegebenen, augenfälligen Faktizität einer weißen und einer schwarzen Pyramide waren die Testgruppen – mit jeweils einem Probanden, der der Manipulation der restlichen Mitgliede r ausgesetzt war – der Meinung, beide seien weiß.
Fragen danach, welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen das Individuum ausgesetzt ist und wie sich im Kleinen, im Alltäglichen Erfahrungs - und Handlungsräume für die Einzelne und den Einzelnen erschließen lassen, beschäftigen Anna Jermolaewa schon lange. Die Motive ihrer Videos, Fotografien und Installationen bestechen gerade in ihrer Einfachheit und zeugen zugleich vom analytischen Interesse der Künstlerin an (hegemonialen) Struk turen, in denen sich soziale, politische oder auch geschlechtsspezifische Ungleichheit äußert.
Jermolaewa findet ihre Bilder im Hier und Jetzt, richtet ihren Blick auf Nebensächlichkeiten, auf Selbstverständliches, dem letztlich das große Ganze menschlich er Existenz eingeschrieben ist. Ihr Blick ist dabei niemals selbstgefällig o der pathetisch, vielmehr entlarv end ironisch, manchmal sogar von beißend em Humor und stets emphatisch.
So zeigt etwa das fortlaufende Langzeitprojekt 5 Jahresplan, das sie seit 19 96 alle fünf Jahre durchführt und als ihr Lebenswerk bezeichnet, immer dieselbe Kameraeinstellung auf die Rolltreppe einer Petersburger U -Bahn- Station. Die lapidare Momentaufnahme hält Menschen in Bewegung fest, die sich über die Jahre sonderbar ähneln, auch wenn sich ihre Lebenswelt grundlegend verändert hat. Jermolaewa navigiert zwischen den Realitäten des postkommunistischen Ostens und des spätkapitalistischen Westens wie auch in all den Zwischenzonen und fängt die Manifestationen und Materialisierungen ökonomischer, politischer und sozialer Verhältnisse und ihrer geschichtlichen Dimension ein. Sie porträtiert die Katzen der Petersburger Eremitage, die als veritable Mitarbeiter des Museums gelten können, und erzählt zugleich die Geschichte der Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg. Oder davon, wie der bis vor wenigen Jahren geltende sogenannte „Disney -Look“ in Form von Verordnungen und Verboten, beispielsweise einen Bart oder Make- up zu tragen, dem Management des Vergnügungsparks direkten Zugriff auf die Körper seiner Mitarbeiteri nnen und Mitarbeiter erlaubte.
Als Flaneurin mit der Videokamera hält Jermolaewa Realitäten Einzelner und Vieler fest, in einer Art, wie sie wohl Walter Benjamin gefallen hätte, mit einem Blick, der uns eine Ahnung davon gibt, was er wohl gemeint haben könnte, als er davon schrieb, dass der historische Materialist angehalten sei, die Geschichte – und man könnte wohl hinzufügen auch die Gegenwart – gegen den Strich zu bürsten und darauf zu bestehen, dass s chwarz schwarz ist und nicht weiß.
Biografieder Künstlerin *1970 in Sankt Petersburg (RU), lebt und arbeitet in Wien (AT). 1998 Abschluss des Kunstgeschichte -St udiums an der Universität Wien 2002 Abschluss an der Akademie der bildenden Künste , Wien (Klasse für Kunst und digitale Medien), Wien 2005 – 2010 Professorin für Medienkunst, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe / ZKM, Karlsruhe (DE)
Preise und Stipendien (Auswahl):2014 Artist Residency / New York Studio Grant, ISCP, BMUKK. 2011 Outstanding Artist Award. 2006 T -Mobile Art Award. 2004 Förderungspreis der Stadt Wien. 2002 Ursula Blickle Förderpreis. 2002 Pfann -Ohmann -Preis. 2000 SCA Kunstpreis. 2000 Professor - Hilde -Goldschmidt -Anerkennungs preis. 1999 Römerquelle- Preis.
Einzelausstellungen (Auswahl):2016 Anna Jermolaewa. A Noble Experiment , Kunsthaus Nexus, Saalfelden; Anna Jermolaewa, Kerstin Engholm Galerie, Wien. 2015 Anna Jermolaewa. Good Times, Bad Times , Zacheta National Gallery of Art, Warschau und WRO Art Center, Breslau (PL). Kiss, Motherhood, Untitled , Function Room, London (GB). 2012 Anna Jermolaewa , Kunsthalle Krems, (AT). Art is Concrete. And so is Truth?, Camera Austria, Graz (AT). Das vierzigste Jahr, Salzburger Kunstverein , Salzburg (AT). 2011 KINOGLAZ, XL Gallery, Moskau (RU). Step aside , Institute of Contemporary Art, Sofia (BG). 2009 Anna Jermolaewa, Kunstverein Friedrichshafen (DE). 2006 Orchestra reloaded, BA -CA Kunstforum, Wien. 2004 Museum Moderner Kunst , Passau (DE). 2002 Anna Jermolaewa , Galerie Johann König, Berlin (DE). Ursula -Blickle -Stiftung, Kraichtal - Unteröwisheim (DE). 2000 Anna Jermolaewa , Institute of Visual Arts, Milwaukee (US), Quartett, Im Pavillon,Wels.
Gruppenausstellungen (Auswahl):2016 Die Schule de s Reichtums. Eine Klasse der Schule von Kyiv , Kyiv Biennial 2015, MUSA, Wien. 2015 Blühendes Gift. Zur feministischen Appropriation des österreichischen Unbewussten , Museum Moderner Kunst, Wien. How to gather? , The 6th Moscow Biennale, Moskau (RU). Beastly /Tierisch , Fotomuseum Winterthur, Winterthur (CH). Europa: Die Zukunft der Geschichte , Kunsthaus Zürich, Zürich (CH). 2014 Sweet Dew – after 1980 . 20th Anniversary of the Gwangju Biennale, Gwangju Museum of Art (KR). 2013 Must- Have , Ligne Roset City, Londo n (GB). GOOD GIRLS_MEMORY, DESIRE, POWER , National Museum of Contemporary Art, Bukarest (RO). How long is now?, Foto -Raum, Wien. Lost in Translation, MMOMA Moscow Museum of Modern Art, Moskau (RU). Ca’ Foscari Esposizioni, Venedig (IT). 2012 Forget Fear , 7 th Berlin Biennale for Contemporary Art, Berlin (DE). 2011 The global Contemporary . Kunstwelten nach 1989 , ZKM, Karlsruhe (DE). 2010 Culture(s) of Copy , Goethe - Gallery, Hong Kong (CN). Videorama – Kunstclips aus Österreich , MdM, Salzburg (AT). Photo I, pho to you , Calvert 22, London (GB).
Vollständige Biografie der Künstlerin unter jermolaewa.com
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