Welche Gesichts- und Körperbilder werden durch digitale Technologien erzeugt? Inwiefern verändern sie unsere Vorstellungen von menschlicher Individualität? Und welche ethischen Fragen ergeben sich daraus für den Umgang mit Fotografien?Der dritte Teil der 2016 ins Leben gerufenen Ausstellungsreihe „Fotografie heute – Künstlerische Fotografie im digitalen Zeitalter“ befasst sich mit den hybriden Erscheinungsformen des Porträts im Spannungsfeld von sozialen Medien, virtueller Realität und biometrischer Kontrolle. Die in der Ausstellung versammelten künstlerischen Positionen thematisieren den Bedeutungswandel, den das Bild des Menschen gegenwärtig erfährt, und entwickeln Gegenentwürfe zu den massenhaft zirkulierenden, algorithmisch-definierten Gesichtsoberflächen. Sie experimentieren mit der Immaterialität des digitalen (Körper-)Bildes und transferieren es – im Sinne einer Rückeroberung – als Collage, Print, Video, Zeichnung, Installation und Skulptur in den musealen Raum.
AKTUELLER HINWEIS:Aufgrund der aktuellen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem COVID-19-Virus die Pinakothek der Modernde seit dem 2. November vorerst für den Publikumsverkehr geschlossen.
Die ausgestellten künstlerischen Positionen hinterfragen die Instrumentalisierung des Körpers durch technologische Neuerungen und stellen die vermeintliche Objektivität zunehmend genutzter Gesichtserkennungssysteme zur Debatte. Viele der digitalen Technologien, die wir tagtäglich verwenden, sind im Besitz einiger weniger, kommerzieller Megakonzerne, welche die von uns zur Verfügung gestellten Daten und Inhalte speichern, analysieren und für eigene Zwecke nutzen. Sie konfrontieren die Zivilgesellschaft mit neuen, subtil gesteuerten Formen von Vermarktung und Überwachung, deren Mittel und Zweck beim Gebrauch vieler Applikationen oft unentdeckt bleiben. Gleichzeitig verstetigen viele digitale Technologien fotografisch-basierte Normierungsmethoden, die seit dem 19. Jahrhundert Personengruppen in rassistische und kriminalisierende Kategorien einordnen. Die in der Ausstellung versammelten Arbeiten präsentieren widerständige Porträts, die jenseits normierender Blickregime operieren, deren vereinnahmende Mechanismen aufdecken und zugleich unterwandern:
Bereits Mitte der 1970er Jahre hatte die Medienkunst-Pionierin Lynn Hershman Leeson mit ihrer fotografisch dokumentierten Realzeit/Realraum-Performance Roberta Breitmore einen Prototyp von ,virtueller Identität’ erschaffen: Eine Kunstfigur, die von ihr selbst verkörpert wurde und als Projektionsfläche gesellschaftliche Normierungen bediente und gleichzeitig unterwanderte. Roberta Breitmore problematisiert den Umgang mit Identitätskonstruktionen und zeigt, dass unser Körper – auch im Informationszeitalter – immer den real politischen Machtverhältnissen untergeordnet ist.
Die Arbeiten von Broomberg & Chanarin, Eli Cortiñas, Esther Hovers und Frida Orupabo folgen diesem Ansatz und thematisieren den fortschreitenden Autonomieverlust im Umgang mit algorithmisch-definierten Körperbildern. Indem sie Neuordnungen von Bildmaterial vornehmen oder Bezüge zu den diskreditierenden Klassifizierungsmethoden der Fotografiegeschichte herstellen, entlarven sie die digitalen Technologien als Machtinstrumente gesellschaftlicher Reglementierungen. Den Zweifel an einer vermeintlichen Objektivität zirkulierender (Körper-)Bilder visualisieren auch die Werke von Antye Guenther, Basim Magdy und Emmanuel Van der Auwera. Durch das Spiel mit Bild, fotografiertem Objekt/Subjekt und Zuschreibung weisen sie auf die Konstruiertheit dokumentarischer Bilder im digitalen Zeitalter hin und überführen sie vom virtuellen Megaarchiv des Internets, physisch erfahrbar in den musealen Raum.
FOTOGRAFIE HEUTE wird organisiert von der Sammlung für Fotografie und Medienkunst in der Pinakothek der Moderne unter der Leitung von Franziska Kunze. Die Reihe selbst wurde 2016 von Inka Graeve Ingelmann (1960–2019) initiiert.
Gastkuratorin: Jana Johanna Haeckel, Kunsthistorikerin, Kuratorin und Dozentin mit Sitz in Brüssel, Belgien.
Ausstellung und Publikation wurden ermöglicht durch die ALEXANDER TUTSEK-STIFTUNG, München.
KATALOGBegleitend zur Ausstellung erscheint in limitierter Auflage ein Katalog in deutscher und englischer Sprache, der ausschließlich im Museumsshop erhältlich ist (ca. 19,80 Euro).