… wir sind keine Griechen mehr, können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, wenn wir ihre vollendeten Kunstwerke sehen, viel weniger selbst solche hervorbringen, und warum uns bemühen, etwas Mittelmäßiges zu liefern? … ja die Leute jagen nach Sujets, als wenn die Kunst darin stecke, oder als wenn sie nichts Lebendiges in sich hätten. Muss denn so etwas von außen kommen? haben nicht alle Künstler, die noch ein schönes Kunstwerk hervorbrachten, erst ein Gefühl gehabt? haben sie sich zu dem Gefühl nicht das passende Sujet gewählt? … bei uns geht wieder etwas zugrunde …, die Abstraktionen gehen zugrunde, alles ist luftiger und leichter, als das bisherige, es drängt sich alles zur Landschaft, sucht etwas Bestimmtes in dieser Unbestimmtheit und weiß nicht, wie es anzufangen? (Philipp Otto Runge im Februar 1802 in einem Brief an seinen Vater).Aus diesen berühmt gewordenen Briefzeilen – Runge entfuhren diese, als ihm die Ablehnung seines Beitrages für Goethes Weimarer Preisaufgabe kund getan war – spricht die Erschütterung eines ganzen Zeitalters. Sicher geglaubte Grundlagen der Weltwahrnehmung, bereits im 18. Jahrhundert von den Denkern der Aufklärung angezweifelt, entzogen sich schließlich in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch den europäischen Künstlern. Und so zeigen wir am Anfang unserer Sammlungspräsentation einen sensationellen Fund, namentlich eine bislang gänzlich unbekannte Zeichnung Runges in den Beständen der Grafischen Sammlung, deren Arabesken eine Antwort zu geben suchen auf die vom Künstler beklagte, neue Unübersichtlichkeit des Daseins.
„Die Welt muss romantisiert werden“, fordert daher Novalis 1797/1798 zur Überwindung einer im Gefolge intellektueller und politischer Verwerfungen um sich greifenden Zukunftsangst: „So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ Diese gewagte Unternehmung freilich „ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Ausgangspunkt dieser Verwandlung der Welt ist das menschliche Gemüt, in dem „alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste Weise verknüpft“ sich vorfinden lasse: „Die fremdesten Dinge kommen durch einen Ort, eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit, einen Irrtum, irgend einen Zufall zusammen: so entstehn wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen – und Eins erinnert an alles, wird das Zeichen vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeigerufen. Verstand und Phantasie werden durch Zeit und Raum auf das sonderbarste vereinigt, und man kann sagen, dass jeder Gedanke, jede Erscheinung unsers Gemüts das individuellste Glied eines durchaus eigentümlichen Ganzen ist.“
An die Stelle säkularisierter Systeme, partikulärer Interessen und rationalistischer Anschauungen tritt das auf die Totalität der Welt gerichtete Gefühl, mit dem der Künstler seinen Blick auf die Landschaft, den Menschen, die existentiellen Bedingungen des Daseins und den Tod wirft. Hölderlins 1800/1801 ausgestoßener, dieser Sammlungspräsentation ihren Titel borgender Ruf „Komm! ins Offene, Freund!“ erstrebt die Wiedergewinnung des Numinosen in einer unterdessen entgötterten Welt. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, hält Novalis den „Apologeten des Empirismus“ entgegen, die rastlos danach trachteten, „die Natur, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern“. Wir begleiten Tiroler Künstler*innen auf ihrem Aufbruch zur Offenheit für die jenseits profanierter Tatsachen herrschenden, „unbekannten Ursachen der Phänomene“.