Nintu tat ihren Mund auf und sprach zu den großen Göttern: »Es ist nicht meine Sache, das zu leisten, das ist die Aufgabe Enkis. Er ist es, der alles reinigt. Er gebe mir Lehm, dann will ich mich ans Werk machen.« Atrahasis-Epos, Tafel 1, um 1800 v. d. Z.Vom 3. Juni bis zum 4. Dezember 2022 zeigt das Museum Fünf Kontinente elf Werke der zeitgenössischen Künstlerin Simone Fattal in der Dauerausstellung Der Orient. Geboren in Damaskus, verbrachte Simone Fattal ihr Leben zwischen dem Libanon, Frankreich und den Vereinigten Staaten.
Nach ihren Anfängen als Malerin studierte sie am Art Institute of San Francisco Bildhauerei, mit der sie sich einen Namen machte. In ihrem bildhauerischen Werk drückt Fattal ihre Verbundenheit mit ihrer Heimat und den jahrhundertealten Kunsttraditionen des Nahen und Mittleren Ostens aus. In der Verwendung des Materials Ton erinnert ihr Werk an die handwerklichen Praktiken des alten Mesopotamiens und offenbart ihre Leidenschaft für Geschichte und Archäologie.
»Als Simone Fattal ihren ersten Tonklumpen in die Hand nahm, zögerte sie nicht. Ihre Finger, d. h. die tiefsten Kräfte ihres Geistes, formten aus dieser schlammigen Masse einen stehenden Menschen. Es war ein Akt der Schöpfung. Sie fand ihre Welt sofort wieder. Sie schuf mit einem Schlag den ersten Menschen der Urzeit neu, und sie schuf ihn stehend. Sie schuf keinen Gegenstand, sondern eine Welle, eine Bewegung, eine essentielle Bewegung, die die menschliche Gattung von der Tierwelt trennt, die aber gleichzeitig mit ihr verwandt ist.« So beschreibt die Künstlerin Etel Adnan (1925–2021) die erste Begegnung ihrer Lebensgefährtin Simone Fattal (*1942) mit dem Material Ton. Wie die sumerischen Götter Nintu und Enki im mesopotamischen Atrahasis-Epos einen Menschen aus Lehm erschufen, so kreiert Simone Fattal aus diesem Material Welten, die vorübergehend aus der Geschichte und der Erinnerung hervorgegangen zu sein scheinen. In der Dauerausstellung Der Orient treten Figuren wie Gilgamesh (2011) und Astarte (2008) aus der mesopotamischen Gedankenwelt mit historischen Objekten aus Südwestasien und Nordafrika in einen Dialog über Materialität, Geschichte und Erinnerung. Die Plastiken werden durch großformatige Schwarz-Weiß-Radierungen ergänzt, die von Fattals Kindheitserinnerungen an Syrien inspiriert sind. Während letztere Assoziationen an die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens erwecken, bewegen sich Fattals Plastiken zwischen dem Zeitgenössischen, dem Archaischen und dem Mythischen und lassen in der Ausstellung Zeit und Geschichte verschwimmen.