Der Wanderer Gabriel lebt auf der Straße – auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden von Obdachlosen, die schutzlos der Welt ausgeliefert sind. „Pilgerschaft ist immer auch Zeugenschaft und meine, wie der vergängliche Hauch eines Bindfadens auf diese Karte gelegte Spur ist genau dies: Zeugnis und Erinnerung.“Am 15. September 2015 begann Gabriels Langzeitperformance WEG (ca. 2372 Tage), die bis heute andauert und ihn auf die großen Pilgerstraßen Santiago de Compostelas, Roms und Jerusalems führt – nur mit Zelt, alles am Körper, begleitet von vier großen schwarzen Hunden.
Im Mittelpunkt der Ausstellung Marianischen Antiphonen I – III steht ein Performancezyklus, der vom 5. August bis 7. August 2019 in und um den Marienwallfahrtsort Fátima in Portugal stattfand. Die dokumentarischen Fotographien der vollzogenen Handlung, die wie alle Performances Gabriels ohne Ankündigung im öffentlichen Raum stattfand, werden in der Ausstellung mit poetischen Texten, Fragmenten und konzeptuellen Arbeiten kombiniert und präsentiert.
Im zentralportugiesischen Fátima soll im Sommer 1917 an einer Steineiche die Muttergöttin Maria drei Hirtenkindern insgesamt sechsmal erschienen sein. Sie vertraute ihnen eine Prophezeiung an, die als die Drei Geheimnisse von Fátima in die Geschichte einging. Der Titel Marianische Antiphonen greift die an die Gottesmutter gerichteten Gesänge (Antiphonen = Wechselgesänge) in der christlichen Liturgie auf. Sie verweisen auf das Motiv der Schutzmantelmadonna, die sie seit Beginn der Entwicklung dieser Performancereihe inspirierte. Maria als liebende, wärmende, verständnisvolle und schützende Mutter.
Aus diesen Quellen und dem reichen Mythos des Ortes entstanden die Marianischen Antiphonen. In der dreitägigen Performance begibt sich Gabriel auf die Suche nach der weiblichen Gottheit des Christentums und begegnet der Verkörperung eines Prinzips wie auch der Nachfahrin und Schwester der antiken Muttergottheiten.
GABRIEL ist eine Erzählung und ein Kosmos des Performance-Künstlers Edwin W. Moes und des Kunsthistorikers JMH Schindele. Seit 2019 firmieren sie als Künstlerduo Gabriel & Schindele. Die Hauptfigur der Erzählung heißt Gabriel und wird von Moes verkörpert.
Das Künstlerduo versteht einen Ort wie Fátima als bereits konzeptuell aufgeladenen Möglichkeitsraum. Narrative des Ortes werden durch eine rituelle Performance mobilisiert; das heißt in Ritualen wird etwas Vergangenes belebt und für die Gegenwart gewonnen. In ihrem Werk verschränken sie so unterschiedliche Zeitebenen, Biographik, Geschichte und Fiktionen, genauso wie christliche, griechische und andere mythologische Zeichenwelten.
Dieses permanente Oszillieren zwischen Dichtung und Wahrheit, das auch immer wieder Fragen der Autorschaft berührt, lässt sich als ein Charakteristikum ihres Werkes beschreiben. Dieses sehen sie eingebettet und als Beitrag innerhalb einer langen Tradition europäischer Erinnerungskultur. Die Künstler orientieren sich dabei an kulturwissenschaftlicher, ethnologischer und religionssoziologischer Forschung, genauso wie an Denkern und Philosophen wie den deutschen Frühromantikern oder dem indischen Psychoanalytiker Sudhir Kakar. In die Werke dieser Ausstellung fanden Zitate von Theresa von Ávila, Friedrich Hölderlin, Angelos Sikelianos, Giorgos Seferis und Friedrich von Hardenberg (Novalis) direkten Eingang.
Die Ausstellung ist ein Projekt von Bublitz in Kooperation mit NADAN.