David Octavius Hill (1802 – 1870) und Robert Adamson (1821 – 1848) Baiting the Line (Willie Liston, Newhaven), 1845 aus der Serie Newhaven Fishermen, vor 1900 Brauner Pigmentdruck von James Craig Annan Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
„Das PHOTOGRAPHISCHE PORTRAIT ist ein geschlossenes Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschnei- den sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.“ (Roland Barthes, „Die helle Kammer“, Frankfurt/Main 1985, S. 22.) Im fotografischen Porträt treffen durchaus gegensätzliche Interessen aufeinander. Grundlegend ist das Verhältnis von Fotograf und Fotografiertem. Als dritter Faktor tritt der schon bei der Aufnahme mitgedachte Betrachter hinzu. „A photographic portrait is a picture of someone who knows he is being photographed.“ Hinter dieser lakonischen Feststellung von Richard Avedon verbirgt sich die Erkenntnis, dass die Anwesenheit der Kamera eine besondere psychologische Situation erzeugt. Die Reaktionen sind unterschiedlich, je nachdem, wie unbeholfen oder erfahren die Portraitierten im Umgang mit dem Medium sind. Faktum ist: Man kann nicht nicht kommunizieren, dies ist aus der Kommunikationsforschung von Paul Watzlawick bekannt. Der Mensch verhält sich immer, selbst wenn er sich verschließt oder gar abwendet.
Die Konfrontation gipfelt im Prinzip der Frontalität, das bis in die Gegenwart hinein Gültigkeit hat, jedoch immer wieder neu durchgespielt und hinterfragt wird. Das Projekt „Portraits in Serie“ nimmt den Betrachter mit auf eine Zeitreise von den Anfängen mit Hermann Biow's (1804-1850) Daguerreotypien, David Octavius Hills (1802 – 1870) und Robert Adamsons (1821 – 1848) Talbotypien bis in die digitale Gegenwart zu Michael Najjars (*1966) Cyborgs, in denen die Frage nach dem Ende des klassischen Portraits aufgeworfen wird. Die Frühzeit liefert einen Modellfall, in dem die Modelle durch die langen Belichtungszeiten nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein leben, wie Walter Benjamin feststellt („Kleine Geschichte der Photographie“, 1931). „Thirty Minutes Dialogue“ von Kyungwoo Chun (*1969) aus dem Jahr 2000 spürt dieser Synthese des Ausdrucks nach, die durch das lange Stillhalten der Modelle erzwungen wird, und dringt durch eine Langzeitbelichtung von einer halben Stunde in die Tiefe des Bildraumes ein.
Die kreativen zwanziger Jahren bringen mit dem Neuen Sehen eine der modernen Zeit angemessene gemeinsame „Bildsprache“ hervor, deren jeweilige Ausprägung durch die Individualität von Fotografen wie August Sander (1876 − 1964) bestimmt sind. Dieser entwirft als klassischer Studiofotograf eine Typologie „Menschen des 20. Jahrhunderts“, ausgehend vom bäuerlichen Menschen, dem er in seiner „Stammmappe“ ein Denkmal setzt. Eine andere Position bezieht Helmar Lerski (1871 – 1956), der, vom Film kommend, seine „Köpfe des Alltags“ in extremer Nahsicht inszeniert und mittels effektvoller Studiobeleuchtung aus unbekannten Menschen von der Straße Charakterköpfe modelliert.
Sanders Werk ist Dreh- und Angelpunkt des vergleichenden Sehens als genuinem Prinzip der Serie. Die Autorenfotografie der 1970er Jahre entwickelt in ihrer Auseinandersetzung mit den 1920er Jahren einen neuen Begriff des Dokumentarischen, indem der eigene Standpunkt und zugleich das Medium selbst hinterfragt werden. An die Grenzen gelangt Thomas Ruff (*1958), wenn er davon ausgeht, dass die Fotografie nur die Oberfläche der Dinge wiedergeben kann. Eine persönliche Note bringt Bernhard Fuchs (*1971) ins Spiel, der den Orten seiner eigenen Geschichte nachspürt. Ein großer Portraitist wie Irving Penn (1917 – 2009) wiederum treibt seine Prominenten in die Enge einer Studioecke und lässt sie, je nach den Wünschen und Möglichkeiten ihrer Selbstdarstellung, ihren Platz finden.
Diane Arbus (1923 − 1971) führt einen einseitigen Dialog, der keinesfalls gleichberechtigt zwischen den Interessen der Fotografin und ihren Modellen vermittelt. Die Frontalität signalisiert zwar einen konventionellen Anspruch auf Ehrerbietung, in den kompositorisch komplexen Bilder dominiert aber ein hegemonialer Blick einer Angehörigen der Oberschicht auf die vermeintlich Anderen, die Exoten der bürgerlichen Gesellschaft. Arbus wird bis heute als dokumentarische Fotografin missverstanden. Vergessen wird, dass Fotografie stets eine spezifische Sichtweise der Wirklichkeit darstellt und der Standpunkt des Betrachtens durch entsprechende Vorgaben im Bild festgelegt wird.
Nur heimliche, ohne Wissen des Gegenübers aufgenommene Bilder dokumentieren eine vorgefundene Situation und zugleich einen Monolog. Heinrich Riebesehl (1938 − 2010) wählte diesen Weg in seiner an einem einzigen Tag entstandenen Serie „Menschen im Fahrstuhl“. Die Personen können dort in einem Moment des Innehaltens für sich sein und müssen nicht auf das Beobachtetwerden reagieren. Der Fotograf respektiert ihre Individualität in seiner Aufnahme, ohne Wertung sozialer Unterschiede.
Die Vergleichbarkeit als Prinzip der Serie findet sich bereits in der Frühzeit. Die Daguerreotypien, die Hermann Biow (1804 − 1850) als Unikate 1848/49 von den Parlamentariern der Frankfurter Paulskirche anfertigte, wurden durch Lithografien in Mappenwerken vervielfältigt. Diese Politiker setzten unmittelbar die Ahnen- galerien der Herrscherhäuser fort und das neue Medium Fotografie erweist sich als demokratisch. Rudolph Dührkoops „Hamburgische Männer und Frauen am Anfang des XX. Jahrhunderts“ stehen als bürgerliche Repräsentanten in dieser Traditionslinie.
Nicholas Nixon (*1947) beginnt 1975 die Reihe „The Brown Sisters“ und führt sie jährlich bis heute weiter. In einer Langzeitstudie beobacht er Veränderungen, während Hans-Peter Feldmann (*1941) in der Reihe „100 Jahre“ wie mit dem Zeitraffer von 101 alltäglichen Personen ein Jahrhundert verkörpern lässt. Spannend ist die Einzigartigkeit des jeweiligen Menschen, die im fotografischen Portrait vermittelt wird, selbst wenn die Personen in der Anonymität belassen werden. In der Serie „Protesting the U. S. War in Iraq“ von Judith Joy Ross (*1946) offenbart sich ein Ernst in den Gesichtern, dessen politische Dimension sich mit dem Wissen um
den Kontext erschließt. Wie bei allen Fotografien ist auch hier die Beschriftung beziehungsweise der
Begleittext Teil der Aussage.
Die Ausstellung ist ein Projekt des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, dessen bedeutender Bestand durch Leihgaben aus folgenden Institutionen erweitert wird: Sammlung Niedersächsische Sparkassenstiftung, Hamburger Kunsthalle, Sammlung F. C. Gundlach/Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg, Museum Folkwang Essen und Galerie Hauser & Wirth, Zürich.
Beteiligte Künstlerinnen und Künstler: Diane Arbus, Hermann Biow, Kyungwoo Chun, Rineke Dijkstra, Rudolph Dührkoop, Tsuneo Enari, Patrick Faigenbaum, Hans-Peter Feldmann, Lee Friedlander, Bernhard Fuchs, Nan Goldin, Johann und Heinrich Hamann, Octavius Hill und Robert Adamson, Theodor und Oscar Hofmeister, Roni Horn, Peter Keetman, Jürgen Klauke, Annie Leibovitz, Helmar Lerski, Ulrich Mack, Stefan Moses, Michael Najjar, Nicholas Nixon, Irving Penn, Heinrich Riebesehl, Judith Joy Ross, Thomas Ruff, August Sander, Walter Schels, Michael Schmidt, Cindy Sherman, Andy Warhol.
Begleitpublikation zur Ausstellung: „Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts“ (Deutsch) and „Series of Portraits. A century of photographs” (Englisch) mit Textbeiträgen von Gabriele Betancourt Nuñez, Fides Breuer, Klaas Dierks, Harald Dubau, Anna Feldhaus, Aya Fujita, Sophia Greiff, Susen Krüger Saß, Susanne Lorig, Sherin Najjar, Sabine Schnakenberg, Ulrike Schneider und Daniela Wagner. Kerber Verlag, Bielefeld, Berlin, Leipzig 2011, ca. 240 Seiten, ca. 250 Abbildungen, Preis zwischen 39 und 49 Euro.
Kuratorin: Prof. Dr. Gabriele Betancourt Nuñez, Tel. 040/428 134 – 600, in Zusammenarbeit mit Ulrike Schneider
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