Egon Schiele Zwei Freundinnen, 1915 Budapest, Szépmüvészeti Múzeum Egon Schiele Zwei Freundinnen, 1915 Budapest, Szépmüvészeti Múzeum - Mit freundlicher Genehmigung von: AlbertinaMuseum

Was: Ausstellung

Wann: 22.02.2017 - 18.06.2017

Als Auftakt zum Gedenkjahr 2018 zeigt die Albertina bereits jetzt eine umfassende Ausstellung von Egon Schieles Werk. Sie positioniert sein radikales Œuvre in einer zwischen Moderne und Tradition gespaltenen Epoche. 160 seiner schönsten Gouachen und Zeichnungen führen in ein künstlerisches Werk ein, das sein großes Thema in der existenziellen Einsamkeit des Menschen findet…
Als Auftakt zum Gedenkjahr 2018 zeigt die Albertina bereits jetzt eine umfassende Ausstellung von Egon Schieles Werk. Sie positioniert sein radikales Œuvre in einer zwischen Moderne und Tradition gespaltenen Epoche. 160 seiner schönsten Gouachen und Zeichnungen führen in ein künstlerisches Werk ein, das sein großes Thema in der existenziellen Einsamkeit des Menschen findet und in drastischem Gegensatz zu den Wertvorstellungen der Gesellschaft des Fin de Siècle steht.

Während Schiele üblicherweise als Teil der künstlerischen und geistigen Elite der Wiener Jahrhundertwende von Mahler bis Schnitzler, von Freud bis Kraus, von Altenberg bis Hofmannsthal betrachtet wird, folgt die Inszenierung der Ausstellung in der Albertina einem anderen Prinzip: Große, im Raum schwebende Fotografien konfrontieren die radikalen Arbeiten des Künstlers mit der Realität seiner Umwelt. Sie bilden den realen Hintergrund, der die Fallhöhe zwischen dem Schaffen Schieles und der ihn umgebenden Gesellschaft verdeutlicht.

Der große ZeichnerEgon Schiele (1890–1918) ist nicht nur Wegbereiter und Hauptmeister des österreichischen Expressionismus und neben Klimt eine der Schlüsselfiguren der Wiener Jahrhundertwende, er ist vor allem auch der größte Zeichner des 20. Jahrhunderts. Nach seinem Studium an der Akademie, das den strengen Vorschriften des dortigen Lehrbetriebs folgt, wendet sich der junge Künstler zunächst dem Jugendstil zu. Sein Vorbild findet er in Gustav Klimt. Doch im Gegensatz zu Klimt, dessen Zeichnungen als Ideen, Entwürfe oder Skizzen für seine Gemälde dienen, betrachtet Egon Schiele seine Arbeiten auf Papier bald als autonome Kunstwerke. Um 1910 findet er als kaum Zwanzigjähriger zu einem unverwechselbaren, eigenen Stil – und dies vor allem in seiner Zeichenkunst.

In der Zeichnung, im Aquarell und der Gouache beschreitet der Künstler neue Wege: Mit sicherer, kräftiger Linienführung erfasst er seinen Bildgegenstand, der meist der menschliche Körper ist. Einerseits charakterisiert er ihn durch treffsichere Konturierung, andererseits verfremdet er ihn durch gewagte Perspektiven und überspitzte Gestik und Mimik. Gerade in seinen präzise kalkulierten Zeichnungen erschließt Schiele in Bezug auf Ikonografie und Farbgebung neues Terrain. Nicht zufällig wird das zeichnerische Œuvre des Künstlers als seiner Malerei mindestens ebenbürtig geschätzt – der Zeichner Schiele ist dem Maler Schiele sogar weit überlegen. Als Zeichner wird er in weiterer Folge zum großen Vorbild für viele KünstlerInnen unserer Zeit.

Tabubruch als PrinzipEgon Schieles Darstellungen ausgezehrter Körper zeigen eine damals wie heute radikale Ästhetik des Hässlichen. Diese widerspricht dem Schönheitsideal der Secession um Gustav Klimt. Der junge Schiele hebt die Gegensätze zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Normalen und dem Pathologischen auf. Seine ProtagonistInnen stehen symbolhaft für die Entfremdung des Menschen von der bürgerlichen Gesellschaft und der Kirche. Sie verkörpern eine Allegorie der Heimatlosigkeit des modernen Individuums – das Ablegen falscher Scham wird dabei als Tabubruch zum ästhetischen Prinzip.

Schiele als Ethiker und MoralistUm einen neuen Zugang zur Entschlüsselung des oft so rätselhaft-allegorischen Werks Schieles zu finden, veranschaulicht die Ausstellung in der Albertina die vielfältigen Inspirationsquellen des Künstlers. Erstmals wird eine ikonografisch bisher nicht identifizierte Bildgruppe intensiv beleuchtet: Die sogenannten Allegorischen Werke. Neue Forschungen haben ergeben, dass Schiele sich in diesen Bildern mit dem Armutsideal von Franz von Assisi und den „Spiritualen“ des 13. Jahrhunderts auseinandersetzt. Die Anhänger dieser Bewegung sollten entbehrungsreiche Armut mit seelsorgerischer Tätigkeit vereinen.

Zwischen 1912 und 1918 schuf Egon Schiele eine Reihe von Werken, die Männer in ärmlichem Gewand zeigen, mit pathetischen Titeln wie Erlösung, Andacht oder Die Wahrheit wurde enthüllt. Mit der motivischen wie inhaltlichen Anlehnung an das Armutsideal von Franz von Assisi hebt sich der junge Künstler einmal mehr vom Materialismus ab, den die Elite des Wiener Fin de Siècle um Gustav Klimt und die Wiener Werkstätte repräsentiert. Schieles Kunst ist dabei allerdings nicht das Abbild seiner persönlichen Befindlichkeit, sondern erhebt vielmehr einen hohen moralischen Anspruch: Schiele erweist sich nicht nur als Künstler von größtmöglicher Freiheit und ästhetischer Autonomie, sondern zugleich auch als Verfechter hoher Ethik und leidenschaftlicher Spiritualität.

Im Kontext von seinen hohen Moralvorstellungen ist auch die berühmte V-Geste, die erstmals in seinem Selbstbildnis mit Pfauenweste zu sehen ist, zu deuten. Das Handzeichen zitiert das berühmte byzantinische Pantokrator-Mosaik der Chora-Kirche in Konstantinopel. Nicht nur in dieser Geste, auch im Lichtkranz, der den Kopf des Künstlers heiligt, inszeniert sich Egon Schiele performativ als Auserwählter von hohem Rang. Die wirre Frisur und der Blick von oben herab lässt das selbstbewusste Genie erkennen, das der Welt das Heil bringt: ein verweltlichter Christus als Herrscher, ein Künstler als Schöpfer und Messias. So wird ein wesentlicher Aspekt byzantinischer Ikonografie zu einer zeitgenössischen Geste uminterpretiert und expressionistisch übersetzt.

Umfangreiche WerkschauTrotz seiner kurzen Lebensspanne (1890–1918) und einer kaum mehr als zehn Jahre währenden Phase künstlerischen Schaffens hinterlässt der Künstler ein umfangreiches Werk. Es umfasst, seine Skizzenbücher nicht mitgerechnet, über 330 Gemälde und über 2.500 Zeichnungen. Die Albertina besitzt zahlreiche Werke aus jeder Phase des jung verstorbenen Genies.Die hauseigenen Bestände bilden den Ausgangspunkt der Ausstellung, die um einzelne, bedeutende Leihgaben aus nationalen und internationalen Sammlungen und Museen ergänzt wird. So richtet die Schau einen einzigartigen Blick auf die künstlerische Entwicklung Egon Schieles, die sein plötzlicher Tod im Alter von nur 28 Jahren so jäh beenden sollte.

SaaltexteEgon SchieleAm 12. Juni 1890 kommt Egon Leo Adolf Ludwig Schiele in Tulln als Kind des Bahnhofsvorstandes Adolf Eugen Schiele (1850–1904) und der Maria Schiele, geb. Soukop (1862–1935) zur Welt. Er verbringt die Kindheit mit seinen Schwestern Melanie (1886–1974) und Gertrude („Gerti“, 1894–1981). Schon als Kind beginnt Schiele zu zeichnen. Das Gymnasium besucht er für ein Jahr zunächst in Krems, dann in Klosterneuburg. Als schlechter Schüler muss er eine Klasse wiederholen. Am 31. Dezember 1904 stirbt sein schwer kranker Vater in Klosterneuburg, wohin die Familie übersiedelt war. Zeitlebens leidet Schiele am Verlust seines Vaters und setzt ihm 1912 im allegorischen Doppelselbstbildnis Eremiten ein Denkmal.

Vormund wird sein wohlhabender Onkel Leopold Czihaczek (1842–1929). Gegen dessen Willen ermöglicht die Mutter eine Bewerbung an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo er im Oktober 1906 jüngster Student wird. Während des Studiums in der Meisterklasse Christian Griepenkerls (1839–1916) lernt Schiele 1907 Gustav Klimt (1862– 1918) kennen und bezieht sein erstes eigenes Atelier. 1908 beteiligt er sich erstmals an einer öffentlichen Ausstellung im Stift Klosterneuburg, wo Heinrich Benesch, später wichtiger Sammler und Wegbegleiter, auf ihn aufmerksam wird.

Der BeginnIm Oktober 1906 wird Egon Schiele mit sechzehn Jahren als jüngster Student seines Jahrgangs in die Akademie der bildenden Künste in Wien in die Meisterklasse des Historienmalers Christian Griepenkerl aufgenommen. Innerhalb von nur drei Jahren eignet sich Schiele eine Vielfalt an Techniken an, wobei ihm der Ausbildungsschwerpunkt auf dem Gebiet der Zeichnung und die Übung des Schnellzeichnens durchaus entgegenkommen. Innerhalb weniger Jahre entstehen Werke von einer großen stilistischen Spannweite, die Schieles Auseinandersetzung mit dem Naturalismus und Symbolismus, aber auch mit dem Spätimpressionismus und schon sehr früh mit dem Wiener Jugendstil belegen. Schieles großes Vorbild wird Gustav Klimt. Vor allem die virtuose Aneignung des Flächenstils der Wiener Werkstätte und der Secession zeigt, dass sich der junge Künstler früh von den akademischen Konventionen seines Lehrers abwendet. Sanft schwingende Linien umspielen melodiös die Figuren. Schieles Vorliebe für die dekorativ-ornamentale Linie artikuliert sich in den Akten ebenso wie in den Porträts und Ganzfigurendarstellungen.

SelbstfindungIn der Internationalen Kunstschau 1909 in Wien werden Werke Schieles gezeigt. Er kommt mit Josef Hoffmann (1870–1956) und der Wiener Werkstätte in Kontakt. Gemeinsam mit Kollegen gründet er aus Protest gegen die konservative Ausbildung an der Akademie die Neukunstgruppe und bricht im Juli 1909 sein Studium ab. Im Dezember stellt die Gruppe erstmals in Wien aus. Schiele lernt den Kunstschriftsteller Arthur Roessler (1877–1955) und den bedeutenden Sammler Carl Reininghaus kennen. Ende 1909/Anfang 1910 arbeitet er mit Max Oppenheimer (1885–1954) Seite an Seite, lässt den Jugendstil hinter sich, findet zu einem eigenen Stil und betätigt sich auch dichterisch. 1910 entstehen Porträtgemälde, Karten für die Wiener Werkstätte und Entwürfe für das Palais Stoclet in Brüssel. Schiele nimmt an der Internationalen Jagdausstellung in Wien teil. 1910 schafft Schiele expressive Bilder mit wilder Kolorierung als eigenständige Werke auf Papier, die ihm bereits einen Platz in der Kunstgeschichte sichern.

Die Anwesenheit des AbwesendenSchieles Figuren, auch die Selbstbildnisse, bewegen sich nicht nur in einem von allen Gegenständen und Koordinaten geleerten Raum; Schiele zeichnet sie – und sich selbst – auch ohne jene Gegenstände, von denen nur noch die Hand- und Körperhaltung oder das Sitzmotiv Zeugnis ablegen: In der Körperhaltung und Gestik sind die abwesenden Dinge virtuell gegenwärtig, was den Kompositionen eine merkwürdig irreale Atmosphäre verleiht. Am deutlichsten ist dieses Gestaltungsprinzip bei Schieles Porträt des Cellospielers nachzuvollziehen. Alleine die ungewöhnliche Armhaltung und die gegrätschten Beine verraten die Position des Cellos, das Schiele nicht darstellt.

Egon Schiele und die KinderIm Mai 1910 fährt Schiele mit seinem Studienfreund Anton Peschka (1885–1940) und dem Lebenskünstler Erwin Osen (1891–1970) nach Krumau, wo das ungleiche Trio eine Künstlerkolonie gründen will. Noch vor seiner Abreise beginnt Schiele mit einer Reihe von Kinderzeichnungen: Bildnisse ärmlich bekleideter Proletarierkinder ebenso wie erotische Mädchenakte. Die Hauptgruppe entsteht erst in Krumau sowie nach seiner Rückkehr aus Böhmen im Spätsommer in Wien.

Diese Kinderzeichnungen sind Meisterwerke der Charakterisierungskunst. Überzeugend wecken sie den Eindruck einer großen Natürlichkeit. Der unruhige, zackige Zeichenstil charakterisiert die verlotterte Kleidung der Buben, die schwieligen Hände und zerbrechlichen Körper. Während Schiele die Knaben stets ohne jegliche Erotisierung darstellt, sexualisiert er die weiblichen Akte, die sich und ihren erotischen Leib immer in Bezug auf den Betrachter präsentieren und gleichsam ein heimliches Einverständnis zwischen der Verführerin und dem Verführten herstellen. Alles an diesen Akten rechnet mit der Wirkung, die ihr Anblick auslösen soll. Aus dem Geist der Tabus ihrer Zeit entstanden, demonstrieren diese Werke geradezu aggressiv die verdrängte kindliche Sexualität. Turbulente Jahre Schieles erste größere Einzelausstellung findet 1911 in Wien statt. Er lernt Walburga „Wally“ Neuzil (1894–1917) kennen, sie bleibt sein Lieblingsmodell und seine Partnerin bis Schiele 1915 Edith Harms heiraten wird. Mit Wally übersiedelt er im Mai 1911 nach Krumau, wo die romantische Altstadt ein bleibendes Thema seiner Kunst wird. Doch wird das in wilder Ehe lebende Paar schon Anfang August wegen ihres freien Lebensstils aus Krumau hinausgeekelt. Noch im August 1911 lässt Schiele sich in Neulengbach nieder, wo ihn Wally oft besucht. In geliebter Natur und doch in der Nähe Wiens, beginnt eine fruchtbare Schaffensphase. 1912 stellt er in Budapest, München, Dresden, im Museum Folkwang in Hagen aus und nimmt an einer Ausstellung des Wiener Hagenbundes teil, wo der Kunstsammler Franz Hauer auf ihn aufmerksam wird. In der legendären Sonderbundausstellung in Köln werden drei Werke von ihm gezeigt. Im November 1912 bezieht er das Atelier in Wien-Hietzing, das er zeitlebens behält. Gustav Klimt vermittelt ihn an die Industriellen- und Sammlerfamilie Lederer. Schieles finanzielle Verhältnisse verbessern sich.

SelbstsichtMit den Selbstthematisierungen und Rollenbildern betritt Egon Schiele Neuland. Schieles Einsicht in die veränderte gesellschaftliche Realität der Jahrhundertwende lässt ihn Selbstdarstellungen entwerfen, die Symbolfiguren psychosozialer Konflikte sind. Seine unterschiedlichen Rollenbilder und Selbstentwürfe sind nicht das Ergebnis einer Selbstbeschau des Künstlers: sie sind das theatralische Resultat der Erkenntnis, dass es ein kohärentes Innenleben im Zeitalter der Moderne nicht mehr gibt. Der Mensch ist sich, der Religion, seiner gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt entfremdet: Er ist aus dem Lot geraten.

Die V-GesteHaftet dem Werk Egon Schieles schon in seiner Gesamtheit eine gewisse Zeichenhaftigkeit an, so hat insbesondere die Gestik der von ihm dargestellten Menschen von jeher die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf sich gezogen. Allen voran beschäftigte ein immer wiederkehrendes, rätselhaftes Handzeichen – zumeist, wenn auch nicht ausschließlich eines seiner Selbstbildnisse. Es geht um jene Geste, bei der die Hand flach ausgestreckt wird, alle Finger mit Ausnahme des Daumens aneinandergelegt werden, und dann zwischen Zeigefinger und Mittelfinger ein keilförmiger Spalt aufgespreizt wird. Aufgrund der dadurch entstehenden Form in Gestalt des Buchstabens V wurde dieses Zeichen „V-Geste“ benannt. Was aber soll die sonderbare, von Schiele immer wieder gezeigte Geste bedeuten? Der Blick zurück auf historische Kunstwerke weist hier den Weg: Kaum zufällig führt die erste Spur direkt in die Akademie der bildenden Künste in Wien, die Ausbildungsstätte Schieles. Ein in der dortigen Bibliothek noch heute vorhandener, 1908 erschienener Tafelband über die byzantinische Chora-Kirche in Konstantinopel zeigt eine zeichnerische Wiedergabe des großen Pantokrator-Mosaiks: Christus als Weltenherrscher. Dass die äußerst ungewöhnliche, zeichenhafte Handgeste dieses Christusbildnisses mit dem in V-Form gespreizten Zeige- und Mittelfinger Schiele sicher aufgefallen sein wird und ihm als Inspiration gedient haben muss, belegen mehrere seiner Selbstbildnisse. Schiele versteht sich als Heilbringer, seine Kunst als moralisch-ethische Vorgabe.

Im GefängnisIm April 1912 wird die künstlerische Karriere Schieles jäh unterbrochen. Seine Angewohnheit, Kinder aus den kleinbürgerlichen, sittenstrengen Familien der Nachbarschaft als Modelle zu nehmen, wird wie zuvor in Krumau nun auch in Neulengbach mit Argwohn beäugt. Als Schiele und Wally Neuzil die dreizehnjährige, von zu Hause ausgerissene Tatjana von Mossig ihrem Wunsch entsprechend nach Wien zu deren Großmutter bringen wollen, erhebt der Vater des Mädchens, ein pensionierter Marineoffizier, Anklage wegen Entführung und Schändung einer Minderjährigen. Am 13. April 1912 wird Schiele in Neulengbach verhaftet. Die Anschuldigungen erweisen sich am Ende zwar als haltlos. Weil aber Kinder in Schieles Atelier Aktstudien zu Gesicht bekamen, wird Schiele vom Kreisgericht St. Pölten zu drei Tagen Arrest wegen „ungenügender Verwahrung erotischer Akte“ verurteilt. 125 als „obszön“ befundene Zeichnungen werden beschlagnahmt. Eine Aktzeichnung wird symbolisch verbrannt. Während der über dreiwöchigen Untersuchungshaft entstehen jene Gefängniszeichnungen, die von der völligen Zerrüttung und zunehmenden Panik Schieles berichten. Schiele fürchtet, für das zu Unrecht vorgeworfene Delikt vielleicht zu zwanzig Jahren schweren Kerkers verurteilt zu werden. Nach seiner Entlassung übersiedelt Schiele nach Wien ins Atelier seines Freundes Dom Osen. Noch im selben Sommer reist er mit Wally nach Kärnten und Triest sowie an den Bodensee und nach München, wo er Werke des deutschen Expressionismus kennenlernt.

Egon Schiele und Franz von Assisi1911 plant Schiele in Neulengbach einen großen Franziskus und Klara-Zyklus, von dem er bis zu seiner Inhaftierung 1912 drei Gemälde verwirklicht: Bekehrung, Liebkosung und Agonie. Die Bilder mit ihren geheimnisvollen Titeln zeigen, wie Johann Thomas Ambrózy aufgedeckt hat, dass es Schiele um ethische Inhalte geht, die er am Beispiel des Franz von Assisi (1181 – 1226) darstellt. Schiele sieht in Franziskus einen Gegner von jeglichem Materialismus: Er deutet die mönchische Askese des Heiligen als Kritik gegen den Luxus der Gesellschaft im Wiener Fin de Siècle. 1913 setzt Schiele die künstlerische Auseinandersetzung mit Franz von Assisi in mehreren Werken fort. Diese expressiven Blätter zeigen Schlüsselszenen aus dem Leben des Heiligen. Mit den kurzen Kutten dieser Gestalten verweist Schiele auf die Tracht der Spiritualen, die dem strengen Armutsideal des Franziskus treu bleiben. Mit Franz von Assisi verbindet Schiele seine religiöse Naturliebe, seine Freiheitsliebe, seine Verachtung des Geldes und seine Güte. „Als einer der wenigen durch und durch echten Künstler war Schiele einer der wenigen gütigen Menschen“, schrieb Albert Paris Gütersloh über ihn. Ein anderer Zeitgenosse des Künstlers, Johannes Käfer, bescheinigt noch 1946 Schiele „lauterste Güte, und eine franziskanische Liebe zur Kreatur sowie seine ungekünstelte Bescheidenheit“. Am Zenit Anfang 1913 wird Schiele in den Bund Österreichischer Künstler aufgenommen und beteiligt sich an dessen Budapester Ausstellung. Auch in München, Berlin und Düsseldorf sind in prominenten Ausstellungen 1913 zahlreiche Werke von ihm zu sehen. In Wien nimmt er an der Internationalen Schwarz-Weiß-Ausstellung und der 43. Ausstellung der Secession teil. Er reist viel: nach Krumau, München und Villach, malt Stein an der Donau, urlaubt mit Wally bei Arthur Roessler am Traunsee, mit Mutter und Schwester Gerti in Kärnten. 1913 setzt Schiele seine Beschäftigung mit Franz von Assisi in expressiven Allegorien auf Papier fort, setzt sich aber auch mit der Antike auseinander. Schieles isolierte Körperbilder zeigen ihn 1913/14 am Zenit seiner Meisterschaft in ausdruckstarker, zeitloser Darstellung der existenziellen Einsamkeit des Menschen. Kriegsjahre Zum Jahreswechsel 1914/15 wird Schiele von der Wiener Galerie Arnot in einer erfolgreichen Einzelausstellung präsentiert. Auch im Zürcher Kunsthaus sind 1915 von ihm Werke zu sehen. Bei einer Musterung im Mai 1915 für tauglich erklärt, heiratet er kurz darauf in der lutherischen Stadtkirche in Wien Edith Harms. Die kurze Hochzeitsreise führt nach Prag, wo Schiele einrücken muss. Wenn dienstfrei, darf er in seinem Hietzinger Atelier arbeiten. 1915 entstehen wieder große allegorische Gemälde und melancholische Krumau-Bilder. Im Dezember wird Schiele von der Berliner Sezession zu einer Ausstellungsbeteiligung eingeladen. Anfang Mai wird er als Schreiber in das Lager für kriegsgefangene Offiziere ins niederösterreichische Mühling bei Wieselburg versetzt. Mit gefangenen Russen spricht Schiele über die gemeinsame Friedenssehnsucht und ein vereinigtes Europa. Er bekommt im Lager ein Atelier. Seine Frau besucht ihn öfter. Doch von der Wiener Kunstszene abgeschnitten nimmt seine künstlerische Produktion in dieser Zeit stark ab.

Edith Harms: Eine gute PartieAnfang 1914 lernt Schiele die vis-à-vis von ihm wohnenden Schwestern Edith (1893–1918) und Adele Harms (1890–1968) kennen. Egon heiratet Edith im Folgejahr, kurz bevor er zum Kriegsdienst einberufen wird. Sie besteht vor der Heirat mit Schiele auf eine endgültige Trennung von Wally, die er vornimmt. Schiele fertigte sowohl Gemälde als auch Zeichnungen seines Schwiegervaters und der beiden Schwestern an. Edith stand ihm Modell und duldete zunächst keine anderen Modelle. Doch das ändert sich 1918, als Edith schwanger wird und Schiele vermehrt mit anderen Modellen arbeitet, die seinem schlanken Figurenideal entsprechen. Schiele schafft weiterhin erotische Zeichnungen. Aus Briefen von Edith an Egon lässt sich ein liebevoller Ton ausmachen, doch Briefe oder Postkarten von Schiele an Edith sind rar. Die Werke, in denen Schiele Liebespaare darstellt, die seine und Ediths Züge tragen, illustrieren weniger sein emotionales Verständnis dieser Beziehung als die Einsicht, dass der Mensch im Grunde allein ist: auch in einer offensichtlichen guten und engen Partnerschaft.

Egon Schiele und die FotografieSchiele entdeckt 1914 die Möglichkeiten künstlerischer Fotografie und beginnt in Zusammenarbeit mit Anton Josef Trčka mit fotografischen Selbstbildnissen zu experimentieren. Trčkas Aufnahmen von Schiele gehören zu seinen bekanntesten Fotografien. Die Autorschaft der Fotografien – der sich inszenierende Schiele oder der hinter der Kamera stehende Trčka – lässt sich nicht sinnvoll nach nur einer Seite beantworten. Für die ästhetische Wirkung sind der knappe Bildausschnitt und die flächenfüllende Komposition mit der nahe an den Bildrand herangerückten Figur entscheidend. Die innerbildliche Rahmung, die orthogonale Gliederung des Hintergrunds und die Retuschen sind Trčkas ureigenste Lösung. Der gestalterische Anteil Schieles – das theatralische Sich-In-Szene- Setzen und die betonte Körpersprache und Mimik – ist jedoch der Arbeit des Fotografen für die künstlerische Wirkung des Bildes ebenbürtig. Die Fotografien sind in ihrer Eigenart nur als partnerschaftlich gleichberechtigte Arbeit zu verstehen: Sie sind Bildnisfotografien Trčkas und Selbstporträts von Egon Schiele zugleich.

Krumau: Die Tote StadtDie im heutigen Tschechien liegende Stadt Krumau spielt für Schiele als Geburtsstadt seiner Mutter zeitlebens eine besondere Rolle. Malerisch in einer Schlinge der Moldau gelegen bietet sie ihm zahlreiche interessante Motive. 1911 schmieden seine Lebensgefährtin Wally und er den Plan, sich dauerhaft in Krumau niederzulassen. Doch dieses Vorhaben scheitert. Bereits nach drei Monaten Aufenthalt werden die beiden ausgewiesen. Möglicherweise erregte die „wilde Ehe“ der beiden Anstoß bei der Bevölkerung, dazu kamen auch Beschwerden über Atelierbesuche von Kindern. Egon Schiele malt viele klein- und großformatige Gemälde, die Krumau als „Tote Stadt“, menschenleer und als Relikt vergangener Zeiten interpretieren. Sein Bild Alte Häuser in Krumau ist ein Meisterwerk, in dem Schiele die reine Linienzeichnung mit dem Bleistift und das in verwesende Farben getauchte Haus räumlich spannungsvoll aufeinander bezieht.

Später ErfolgDen großen finanziellen Durchbruch erlebt Egon Schiele im März 1918, als seine Werke bei der 49. Ausstellung der Wiener Secession ausgestellt werden. Er gestaltet nicht nur das Ausstellungsplakat, ein Manifest seiner Beziehung zu anderen Künstlern, sondern tritt auch als Organisator der Ausstellung auf und erarbeitet deren Konzept. Obwohl die Wiener Gesellschaft große Vorbehalte gegen Teile der Ausstellung hat, wird sie ein großer Erfolg – für Egon Schiele ist dies der große Durchbruch, der ihn zum erklärten Nachfolger und legitimen Erben des im Februar verstorbenen Gustav Klimt werden lässt. Schon bei der Eröffnung herrscht großer Andrang, die Kritiken überliefern die Atmosphäre: „Zahlreiche Arbeiten des Künstlers – bald wird man sagen dürfen des Meisters – zeigen schwermütige deutsche Städtebilder von überall und nirgendwo, todestraurige Männer, sterbensmüde Frauen, verträumte Kinder, die niemals lachen, blicken uns aus seltsam starren Augen an. Dann sieht man wieder Bilder des Lasters, der Sünde und Verruchtheit. Schiele ist ein Phantast des Grausigen und Entsetzlichen. Dabei lebt er im Dekorativen und Flächenschmückenden des Jugendstils.“ (Wiener Abendpost, 11. März 1918) Bereits am ersten Abend verkauft Schiele fünf Gemälde und zahlreiche Zeichnungen. In weiterer Folge wird der Künstler mit Porträtaufträgen überhäuft, gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach erotischen Aktdarstellungen. Allein im letzten Schaffensjahr des Künstlers sind 177 Sitzungen mit verschiedenen weiblichen Modellen dokumentiert.

Früher TodIm Januar 1917 wird Schiele endlich nach Wien versetzt. Er darf wieder in Hietzing wohnen und kann künstlerisch mehr arbeiten. Gemeinsam mit Albert Paris Gütersloh wird er beauftragt, die Kriegsausstellung 1917 im Prater zu organisieren. Schiele plant mit Vertretern von Kunst, Literatur und Musik für den kulturellen Wiederaufbau nach dem Krieg eine Kunsthalle zu gründen. Er nimmt 1917 an Ausstellungen in Wien, München, Amsterdam, Stockholm und Kopenhagen teil. Nach dem überraschenden Tod Gustav Klimts Anfang 1918 wird Egon Schiele als der legitime Erbe dieses Hauptmeisters der Österreichischen Avantgarde angesehen und zum Haupt der Wiener Kunstszene. Doch erkrankt Schieles im sechsten Monat schwangere Frau Edith an der Spanischen Grippe und stirbt am 28. Oktober. Schiele zeichnet sie noch am letzten Tag ihres Lebens. Dann erkrankt er selbst an dieser tödlichen hochansteckenden Krankheit, die weltweit mehr Menschen dahinrafft, als im ersten Weltkrieg gefallen sind. Am frühen Morgen des 31. Oktober 1918, am Tag der Auflösung der österreichisch- ungarischen Monarchie, stirbt Egon Schiele im Alter von 28 Jahren. Nach einer Notiz seiner Schwägerin Adele Harms waren seine letzte Worte: „Der Krieg ist aus – und ich muß geh’n.“

Egon Schiele Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid, 1910 Albertina, Wien Egon Schiele Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid, 1910 Albertina, Wien - Mit freundlicher Genehmigung von: AlbertinaMuseum / Albertina Egon Schiele Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid, 1910 Albertina, Wien Egon Schiele Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid, 1910 Albertina, Wien - Mit freundlicher Genehmigung von: AlbertinaMuseum / Albertina Egon Schiele Triestiner Fischerboot, 1912 Albertina, Wien Egon Schiele Triestiner Fischerboot, 1912 Albertina, Wien - Mit freundlicher Genehmigung von: AlbertinaMuseum / Albertina
Tags: Egon Schiele, Expressionismus, Malerei

Täglich 10.00 bis 18.00 UhrMittwoch 10.00 bis 21.00 Uhr
 
Erwachsene 11,90