Vom reinen Spritlieferanten hin zum modernen NahversorgerSeit gestern Abend ist es möglich, im Volkskundemuseum dem Mythos rund um die Tankstelle auf die Spur zu gehen. Die Sonderausstellung Mythos Tankstelle in Kooperation mit dem Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Graz und der WKO Steiermark zeigt ganz neue Facetten dieses Begegnungsortes. „Wir beleuchten nicht nur die historischen Meilensteine, sondern nehmen auch kulturelle und soziale Dimensionen in den Fokus und greifen damit ein gesellschaftspolitisch relevantes Thema auf“, erklärt Kurator Helmut Eberhart. Zu sehen ist die Ausstellung bis 06.01.2020.„Heute ist die Tankstelle Nahversorger, Begegnungs- und Kommunikationsort. Von Beginn an war ihre Geschichte mit der des Automobils eng verbunden und gleichzeitig Symbol der Moderne, der Freiheit und individuellen Mobilität“, führte Wolfgang Muchitsch, wissenschaftlicher Direktor des Joanneums, in die Ausstellung ein. Auf der Suche nach einer Alternative für ihr „Beisl“ werden Menschen aus dem Dorf oder auch aus den Vorstädten oft in einer Tankstelle, die über ein Café oder sogar ein kleines Lokal verfügt, fündig. So entwickelte sich in den letzten Jahren in vielen Tankstellen eine eigene Szene, deren Vertreter/innen mittlerweile als Stammgäste gelten, die oft gar nicht mehr nur zum Tanken kommen. Diesem Trend entsprechend, nimmt die Gastronomie in der Ausstellung einen großen Raum ein. Pächter/innen, Mitarbeiter/innen und Gäste sprechen in Form von Zitaten über die neue Rolle der Tankstellen.
Die Zukunft sieht glänzend ausZukünftig wird sich die Tankstelle wahrscheinlich nicht nur der Multifunktionalität verschreiben, sondern sich auch architektonisch weiterentwickeln. So sind Fotos futuristisch anmutender Tankstellen wie jener aus recyceltem Edelstahl in Los Angeles ebenso unter den Ausstellungsstücken wie einige außergewöhnliche österreichische Prototypen dieser Multifunktionalität. In einer Salzburger Tankstelle ist es zum Beispiel möglich, neben der üblichen Spritbeschaffung auch seinen Hund waschen zu lassen. Trotz des kontinuierlichen Wandels werden „Tankstellen auch in Zukunft Energie verkaufen, wobei die Tankstelle als Ort der Begegnung zentral bleibt“, meinen Jürgen Roth, Obmann der Fachgruppe Energiehandel und Tankstellenbesitzer, und Harald Pfleger, Obmann der Fachgruppe Garagen-, Tankstellen- und Serviceunternehmungen der steirischen WKO.
Automobilgeschichte ist auch TankstellengeschichteDer Legende nach unternahm Bertha Benz, die Frau von Carl Benz – des Erfinders des Automobils – 1888 zusammen mit ihren beiden Söhnen die allererste Überlandfahrt mit dem Benz Patent-Motorwagen Nr. 3. Jedoch ging ihr auf halber Strecke von Mannheim nach Pforzheim in Wiesloch der Sprit aus. Da es Tankstellen in ihrer heutigen Form erst seit 1917 gibt, musste sie an einer Apotheke halten. Diese stellte ihr ihren gesamten Vorrat an Leichtbenzin – bestehend aus drei Litern Ligroin – zur Verfügung, damit Benz ihren Ausflug beenden konnte. In den folgenden Jahren wurde Benzin an allen möglichen Orten verkauft, etwa in Apotheken und Drogerien sowie im Kolonialwarenhandel. Ein originalgetreuer Nachbau des Vorgängers dieses Fahrzeugs – der Benz Nr. 1 – ist auch das Herzstück der Ausstellung Mythos Tankstelle.
Warum die Tankstelle ein Mythos istDass Tankstellen nicht nur für die Volkskunde interessant sind, beweisen die verschiedenen ausgestellten Fotoprojekte. Daraus ergibt sich auch die Formulierung der Tankstelle als Mythos. Galt dieser Mythos zunächst dem uneingeschränkten Fortschrittsglauben, so finden wir andererseits die Tankstelle auch als Symbol von Freiheit, was sich etwa am Beispiel der legendären Route 66 von Chicago nach Santa Monica (Los Angeles) manifestiert. Die Tankstellen entlang dieses Highways wurden 1963 Motive des berühmten Fotobuchs Twentysix Gasoline Stations des amerikanischen Künstlers Ed Ruscha, das in der Ausstellung als weiteres Highlight zu sehen ist. Auch andere künstlerische Auseinandersetzungen mit der Tankstelle finden hier ihren Platz, darunter die eigens für die Ausstellung gestaltete Serie Sechsundzwanzig Grazer Tankstellen bei Nacht des Fotografen Philip Schütz.