Von Angesicht zu Angesicht: Mit seiner achtteiligen Werkserie Emotional Detox tritt der britische Künstler Marc Quinn den berühmten „Charakterköpfen“ des barocken Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt gegenüber. Die Ausstellung im Oberen Belvedere präsentiert einen anspielungsreichen und überzeugenden Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst und bedeutenden Werken aus der Sammlung des Museums. Messerschmidts Arbeit hat Quinn seit langem inspiriert, und die „Charakterköpfe“ haben die Entstehung von Emotional Detox direkt beeinflusst.Marc Quinns acht lebensgroße skulpturale Selbstporträts entstanden in einer schwierigen Phase seines Lebens, als er Anfang der 1990er-Jahre seine Alkoholsucht überwinden musste. In dieser Zeit betrachtete er stundenlang die Messerschmidt-Skulptur „Der starke Geruch“ im Victoria & Albert Museum in London. Die ausdrucksstarken Darstellungen des Künstlers aus dem 18. Jahrhundert begeisterten Marc Quinn und inspirierten ihn dazu, seine körperlichen und seelischen Qualen der Entgiftung skulptural umzusetzen. Die Verwendung der Materialien Blei und Wachs, die Spuren des Herstellungsprozesses und die expressive Darstellung kehren das innere Empfinden nach außen. Der Anspruch, den flüchtigen Ausdruck von Emotion in Mimik und Gestik festzuhalten und mit den Mitteln der Bildhauerei zu fassen, verbindet Marc Quinn und Franz Xaver Messerschmidt über die Zeiten hinweg. Beide Künstler verwenden in ihrer Arbeit Blei, ein Material, das für seine Toxizität und seine Rolle in dem sagenumwobenen alchemistischen Vorgang berühmt ist, der zu Gold führt – einem Symbol für den Beginn der Transformation. Die autobiografischen Arbeiten beider Künstler thematisieren zutiefst persönliche Lebenseinschnitte und zeigen ergreifende Selbstinszenierungen. Diese Ausstellung ist die erste gemeinsame Präsentation dieser Werke.
Franz Xaver Messerschmidt schuf die Werkgruppe der „Charakterköpfe“ in seinen letzten Lebensjahren von 1770/71 bis 1783, die er zurückgezogen und enttäuscht vom Wiener Kunstbetrieb in Pressburg/ Bratislava verbrachte. Die zum Teil ins Groteske verzerrten Gesichter geben bis heute Rätsel über ihre Entstehung, ihre Motivik und ihren Zweck auf. Laut aktueller Forschungsthese könnte Messerschmidt an Dystonie erkrankt gewesen sein. Die „Charakterköpfe“ scheinen eine Beobachtung dieser unwillkürlichen Muskelverkrampfungen wiederzugeben. Das Belvedere besitzt den größten Bestand an Messerschmidts „Charakterköpfen“, von denen bis heute eine große Faszination ausgeht und die durch ihre Aktualität zu einer Gegenüberstellung mit zeitgenössischen Positionen einladen.
Marc Quinn, 1964 in London geboren, ist einer der führenden Künstler seiner Generation. Seine Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen erforschen das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur sowie den menschlichen Körper und die Wahrnehmung von Schönheit. Sein Werk nimmt häufig Bezug auf die Kunstgeschichte – von modernen Meistern bis in die Antike. Quinn wurde 1991 mit seiner Skulptur Self (1991) bekannt, einem Abguss des Kopfes des Künstlers aus acht Litern seines eigenen gefrorenen Blutes. Während sich ein Großteil seiner frühen Arbeiten auf die Erforschung des Selbst konzentrierte, war Quinn bald fasziniert davon, die Erfahrungen anderer zu reflektieren, Werte, Wahrnehmung und die Bruchlinien der Gesellschaft in Frage zu stellen. Andere von der Kritik gefeierte Werke sind Alison Lapper Pregnant (2005), ausgestellt auf dem Fourth Plinth des Londoner Trafalgar Square; Planet (2008), eine monumentale Darstellung des Sohnes des Künstlers als Baby, fest installiert in Gardens by the Bay, Singapur; Breath (2012), eine monumentale Nachbildung von Alison Lapper Pregnant, die für die Eröffnungszeremonie der Paralympics 2012 in London in Auftrag gegeben wurde; und Self Conscious Gene (2019), eine 3,5 Meter hohe Bronzeskulptur des „Zombie Boy“ Rick Genest, die zur Zeit im Science Museum in London permanent ausgestellt ist.
Quinns Werke sind in Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten, darunter Tate, London (UK), Metropolitan Museum New York (USA), Guggenheim, Venedig (Italien), Stedelijk Museum, Amsterdam (Niederlande) und Centre Pompidou, Paris (Frankreich).
Kuratorin: Stella Rollig