I am not interested in shooting new…
I am not interested in shooting new…
I am not interested in shooting new things – I am interested in seeing things new. Ernst Haas
Ihr Blick, in dem sich tiefe Verzweiflung mit einem Schimmer von Hoffnung paart, bleibt unerwidert. Der Mann, dem sie ein Bild ihres Sohnes in Uniform entgegenstreckt, beachtet die ältere Dame nicht. Er hält Ausschau nach seiner eigenen Familie unter den Tausenden, die an diesem Oktobertag im Jahr 1947 zum Wiener Südbahnhof gepilgert waren, um unter den ersten Heimkehrern aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach ihren Männern, Söhnen, Verlobten und Brüdern zu suchen.
Das Bild von der Mutter mit dem Bild ging erst zwei Jahre später – in einer Reportage des amerikanischen Life Magazins – um die Welt und machte den Wiener Fotografen Ernst Haas mit einem Schlag so bekannt, dass Robert Capa, der legendäre Kriegsfotograf und Mitgründer der Fotoagentur Magnum, den jungen Österreicher einlud, nach New York zu kommen.
Fast gleichzeitig trifft ein weiteres Angebot ein, von dem selbst weit erfahrenere Fotografen der damaligen Zeit nur träumen konnten. Das Life Magazin bietet dem 28-Jährigen, der erst acht Jahre davor zu fotografieren begonnen hatte, weil er wegen der jüdischen Vorfahren seines Vaters gezwungen wurde, sein Medizinstudium abzubrechen, eine Fixanstellung als Fotograf an. Haas überlegt nicht lange – und lehnt ab. Er wolle keine Auftragsarbeiten erledigen, teilte er dem Herausgeber mit, sondern weiterhin nur das fotografieren, was ihn wirklich interessiere.
Der Karriere des späteren Wahl-Amerikaners sollte das keinen Abbruch tun: Ernst Haas gilt heute weltweit als einer der herausragendsten Vertreter des Fotojournalismus des 20. Jahrhunderts. Als einst jüngstes und erstes österreichisches Mitglied und späterer Präsident der Agentur Magnum Photos hat er nicht nur die Blütezeit der illustrierten Nachrichtenmagazine wie Life oder Paris Match maßgeblich mitgestaltet, sondern mit seinem unvergleichlichen Gespür für packende Geschichten und seiner einzigartigen Bildsprache auch die Figur des autonomen Autorenfotografen wie kaum ein anderer definiert.
„Ernst Haas zählt zweifellos zu den wichtigsten Dokumentarfotografen aller Zeiten“, sagt WestLicht Präsident Peter Coeln über den 1986 im Alter von nur 65 Jahren verstorbenen Ausnahmefotografen. „Darüber hinaus hat er als Pionier der Farbfotografie auch Kunstgeschichte geschrieben. Wir sind froh und dankbar, dass es mit der Unterstützung seiner Familie gelungen ist, auch sein hierzulande kaum bekanntes Farbwerk erstmals in dieser Breite präsentieren zu können.“
Mit der Entscheidung, ab Anfang der 1950er-Jahre auch in Farbe zu fotografieren, stellte sich Haas bewusst gegen den Mainstream. Farbbilder galten damals als marktschreierisches, rein kommerzielles Ausdrucksmittel und waren in der Dokumentar- und der künstlerischen Fotografie gleichermaßen verpönt. Haas hingegen fand in den satten Farben des legendären Kodachrome-Films das perfekte Ausdrucksmittel für seine künstlerischen Visionen.
Der Erfolg sollte ihm Recht geben: Images of a Magic City, sein Fotoessay über New York, war 1951 die erste große Bildstrecke überhaupt, die Life in Farbe abgedruckt hat. Sie erstreckte sich über 24 Seiten und zwei Ausgaben und gilt bis heute als bahnbrechender Meilenstein in der Farbfotografie. In der Folge überzeugte Haas mit seinen malerischen, immer abstrakter werdenden Farbkompositionen auch die Kunstwelt. 1962 war er mit seiner „Color Photography“ der erste Farbfotokünstler überhaupt, dem das New Yorker Museum of Modern Art, eine Einzelausstellung widmete.
Mit rund 130 Arbeiten, darunter rare Vintage-Prints aus dem Wien der Nachkriegszeit und großformatige Abzüge von Haas‘ amerikanischem Farbwerk, gibt die WestLicht-Ausstellung einen eindrucksvollen Überblick über alle Schaffensperioden seiner beispiellosen Karriere. Ergänzend führen historische Originalausgaben von Life oder Look zurück in die goldenen Zeiten der großen Nachrichtenreportagen. Zudem geben Ausschnitte aus dem von Haas im Jahr 1963 mitkonzipierten und präsentierten Fernsehprogramm The Art of Seeing Einblicke in das ästhetische Denken des Künstlers.
Nicht zuletzt hält das umfangreiche Programm mit selten gezeigten Arbeiten, die Haas im Auftrag von Werbeagenturen oder Hollywoodstudios gemacht hat, auch noch einige besondere Überraschungsmomente parat. Oder hätten sie gewusst, welcher weltberühmte Wiener Fotograf den ikonischen Marlboro Man so gekonnt in Szene gesetzt hat?
Täglich 11–19 Uhr donnerstags 11–21 Uhr
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