Bethan Huws(*1961 in Wales) ist nach Martina Morger die zweite Künstlerin, die das 2022 initiierteFormat Artist’s Choice bespielt und die Sammlung des Museums neu «auflädt».«Vor etwa einem Jahr wurde ich eingeladen, für die Reihe Artist’s Choiceeine Ausstellung auf Basis der Werke von Marcel Duchamp zu kuratieren, die Teil der Sammlung des Kunstmuseum Liechtenstein sind. Ich konnte einige meiner eigenen Arbeiten einbinden sowie Werke aus den Sammlungen des Kunstmuseums und der Hilti Art Foundation auswählen.
Eigens für die Ausstellung werden vier neue Videoarbeiten produziert: Die erste beschäftigt sich mit Fountain(1917) –jenemWerk, das mich vor dreiundzwanzig Jahren zur Auseinandersetzung mit Duchamp gebracht hat –, die zweite mit dem Ready-made–eine Form, deren Entstehen wir alle beobachtet haben –, die dritte beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Duchamp und dem Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire–ein Thema, das bisher unbeachtet geblieben ist –, und schliesslichfasst Generalmeine frühere Recherchearbeit zu Duchamp zusammen, die bereits in Research Notes (2014) veröffentlicht wurde.
Alle in der Ausstellung gezeigten Arbeiten, von JosefAlbers bis Lucio Fontana, sagen etwas über Marcel Duchamp aus und dienen nicht lediglich ihrem Selbstzweck –einige meiner eigenen Arbeiten ausgenommen, denn sie waren ursprünglich genau dazu gedacht. Kunstwerke eröffnen eine Reihe von Interpretationsmöglichkeiten; daran sind wir Künstler:innen gewöhnt. Aber das schliesst das ursprüngliche Ziel nicht aus. Zu einem grossen Teil, und ganz im Geiste Duchamps, hinterfragt die Ausstellung das, was wir sehen.
Der Ausstellungsraum ist grob in zwei unterschiedlich farbige Partien aufgeteilt. Der erste Teil, der betreten wird, ist weiss. Hier begegnen Sie meiner Arbeit Winter (or Reason)(2018), einer grossen Schneekugel aus Acryl mit einer lebensgrossen Replik der berühmten Arbeit Fountain(einem umgedrehten Keramik-Urinal), die sich in unregelmässigen Abständen um die eigene Achse dreht und dabei Styroporpartikel (Schnee) in die Luft wirbelt. Auch zwei weisse Neon-Arbeiten sind hier zu finden: Riding Between the Lions[Zwischen den Löwen reiten] (2017) borgt seinen Titel aus einer von Duchamps Notizen und ist ein Wortspiel mit «reading between the lines»[zwischen den Zeilen lesen], und das humorvolle Où sont lestoilettes, s’il vous plaît?[Entschuldigung, wo sind die Toiletten?] (2018) verweist offensichtlich auf die berühmteste Toilette der Kunstgeschichte. Ein weisses Concettospaziale (1966) von Lucio Fontana wird hier ebenfalls gezeigt; es repräsentiert oder verbildlicht eine «Entscheidung», die vermutlich der Grund für seinen weltweiten Erfolg ist. AuchÀl’Infinitif (Boîte blanche)[Im Infinitiv (Weisse Box)]und Suite d'ombres transparents[Suite aus transparenten Schatten](1967)von Marcel Duchampsind hier zu sehen.
Der zweite Teil ist der grüne Teil, unterbrochen durch eine grüne Version der Boîte-en-valise[Box im Koffer]und die Boîte verte,die die Faksimile-Notizen und -Skizzen enthält, die zum Grossen Glas(1915–23)gehören, neben einigen Ready-mades. Thomas Struths umwerfendesParadise29(2005) –eine Fotografie des Peruanischen Urwalds –findet sich hier ebenso wie meine Neon Queen (2017), eine grossformatigeNeon-Arbeit auf Basis von Duchamps nicht fertiggestelltem farbcodierten Schachspiel(1920), bei dem die Königin, ungewöhnlicherweise, grösser ist als der König und grün. In Duchamps Zeichensystem entspricht Grün der Sprache und Weiss–wie Sie sich vorstellen können –dem immateriellen Geist.
Vier Arbeiten –zwei Malereien, eine Fotografie und eine Skulptur –werden physisch abwesend, aber konzeptuell anwesend sind: anwesend im Kopf oder im Geiste, aber nicht fleischlich oder körperlich, sozusagen, was Duchamps Gedanken zu Original und Reproduktion widerspiegelt. Jede dieser Arbeiten wird durch eine gezeichnete Kontur repräsentiert –die Skulptur durch ein dreidimensionales Volumen –, die ihrer tatsächlichen Grösse entspricht. Jede wird mit einer Reproduktion versehen, wie wir sie aus Museen kennen, wenn eine Arbeit als Leihgabe «verreist»ist, und im Besucherheftwird über sie geschrieben werden, als wären sie da.»