ZEICHENKUNST VON KOBELL BIS CORINTH AUS DEM STÄDEL MUSEUM Frankfurt am Main, 13. Februar 2012. Die Graphische Sammlung des Städel Museums präsentiert in der Ausstellung „Freiheit des Sehens. Zeichenkunst von Kobell bis Corinth aus dem Städel Museum“ deutsche Zeichnungen des 19. Jahrhunderts. Aus dem reichen Bestand des Städel Museums an Zeichnungen aus dieser Epoche wurden rund 100 herausragende Werke von 52 Künstlern ausgewählt. Die Auswahl der Zeichnungen spiegelt die ganze Fülle und Vielfalt des Bestandes der Graphischen Sammlung aus jener vielschichtigen Epoche wider, die vom Klassizismus über Romantik, Naturalismus und Realismus bis zum Beginn der Moderne reicht. Von Wilhelm von Kobell, Josef Anton Koch, Carl Philipp Fohr, Carl Blechen, Carl Rottmann, Carl Morgenstern, Moritz von Schwind, Hans von Marées, Wilhelm Leibl, Adolf von Menzel, Max Liebermann und Wilhelm Busch spannt sich der Bogen mit Künstlern wie Max Klinger, Ferdinand Hodler, Paula Modersohn- Becker, Lovis Corinth und Käthe Kollwitz bis zum Beginn der Moderne. Deutlich wird zugleich die ganze Bandbreite grafischen Schaffens vom Skizzenbuchblatt über Gemäldevorzeichnungen und großformatige Freskokartons bis hin zu selbständigen, weit ausgearbeiteten und farbig gefassten Werken.
Die zweijährige Forschungsarbeit an dem Projekt wurde durch die Stiftung Gabriele Busch-Hauck, Frankfurt am Main, gefördert.
Der besondere Reichtum der Graphischen Sammlung des Städel Museums an Zeichnungen des 19. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Raum ist eng mit der Sammlungsgeschichte des Museums verbunden. Die Zeichnungen entstammen teilweise noch den persönlichen Beständen Johann Friedrich Städels, auf dessen Stiftung die Museumsgründung im Jahr 1815 zurückgeht. Städels individuelles Interesse galt mehr der Zeichenkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, aber seiner Sammelleidenschaft, die auch vor Zeitgenossen nicht haltmachte, verdankt das Haus beispielsweise auch den sehr umfangreichen Bestand an Zeichnungen Franz Kobells. Museumsleiter wie Philipp Veit und Johann David Passavant erweiterten in den Jahrzehnten bis 1860 den Sammlungsbestand um bedeutende zeitgenössische Zeichnungen. Beide waren selbst Maler und unterhielten persönliche Beziehungen zu vielen führenden Künstlern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In ihrem intimen, mit hohem Qualitätsbewusstsein verbundenen Verständnis der zeitgenössischen Kunst erwarben sie Blätter, die aus heutiger Sicht künstlerisch und konzeptionell Schlüsselwerke ihrer Epoche sind.
Die Ausstellung möchte über weithin bekannte Werke hinaus auch andere Zeichnungen aus dieser Epoche in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Bei einigen Blättern wird eine weitere institutionelle Besonderheit des Städel Museums deutlich: Johann Friedrich Städel hatte nicht nur seine Kunstsammlung und Bibliothek gestiftet, sondern gleichzeitig auch die Gründung der mit der Stiftung verbundenen Städelschule als Akademie für die zeitgenössische Kunst angestoßen. Zahlreiche in der Ausstellung vertretene Künstler waren selbst als Schüler oder Lehrer der Städelschule verbunden, etwa Philipp Veit und Moritz von Schwind, Victor Müller, Otto Scholderer und Louis Eysen.
Die qualitative Breite der Sammlung des Städel Museums zeigt sich neben regionalen oder sammlungsgeschichtlichen Bezügen auch darin, dass hier Vertreter der wichtigen deutschsprachigen Kunstzentren des 19. Jahrhunderts zu finden sind: Berlin, Dresden, Düsseldorf, München, Wien. Wilhelm von Kobells minutiös und farbenprächtig aquarellierte Marktszenen, Carl Philipp Fohrs romantische Landschaften, die Konturlinie betonende Kompositionen der Nazarener und ihre großformatigen Kartons für ambitionierte Freskoprojekte – die Vielfalt der künstlerischen Absichten und Möglichkeiten im 19. Jahrhundert kann kaum größer sein und reicht bis zu den aus der unmittelbaren Naturanschauung gewonnenen Landschaftsdetails von Carl Morgenstern oder Ernst Fries („Felsengeröll“ und „Verkrüppelter Baumstamm“), karikaturistischen Darstellungen von Wilhelm Busch und eindringlichen Bildnissen so unterschiedlicher Künstler wie Friedrich Olivier und Fritz von Uhde.
Die Vielgestaltigkeit der Auswahl macht auch sichtbar, wie sich nicht allein die Aufgabe der Zeichenkunst, sondern auch die Form der Ausdrucksmöglichkeiten wandelte. Eine traumähnlich hingewischte Landschaft Blechens steht scheinbar unvermittelt einer dreidimensional gedachten Figur Hans von Marées’ gegenüber. Ein in den Konturen aufgelöstes, malerisch aufgefasstes Interieur von Wilhelm Leibl begegnet in der Ausstellung einem Bildnis von der Hand Stauffer-Berns, das die Auseinandersetzung mit der Fotografie nicht verleugnen kann.
Die Zeichenkunst erfährt im 19. Jahrhundert eine besondere Aufwertung. Vor allem die Künstler in der ersten Hälfte schätzen den Bleistift als Ausdrucksmittel, der „nicht hart, nicht spitz genug“ (Adrian Ludwig Richter) sein kann. Es gilt, in der Linie die Motive in ihrem Bedeutungsgehalt zu konzentrieren, sie zu entmaterialisieren und zu einer geistig höheren Stufe zu gelangen.
Vor dem Hintergrund eines engen akademischen Ausbildungssystems ist das Jahrhundert von Freiheitsbestrebungen der Künstler geprägt. In der Zeichenkunst können sie diese praktizieren und ausleben. Joseph Anton Koch etwa flüchtet aus dem Korsett der Stuttgarter Hohen Karlsschule, um in Rom mehrere Generationen von deutschen Künstlern an das Landschaftsstudium in freier Natur heranzuführen. Ferdinand Olivier wendet sich, wie seine nazarenischen Künstlerfreunde, von der klassizistisch ausgerichteten Akademie in Wien ab, um in der altdeutschen Kunst einen Lehrmeister für seine zarten, metallisch linearen Landschaften zu finden. Die Nazarener in Rom sagen sich von den Inhalten der auf die Antike bezogenen klassizistischen Kunst los und streben nach einer religiösen Erneuerung der Gesellschaft durch ihre Kunst. Ihre monumentalen christlichen Programme halten sie in großformatigen Kartons fest, die als gezeichnete Fassung der Fresken besonders geschätzt und bewahrt wurden.
Illustration, Karikatur und Arabeske sind als zeichnerische Eigenart dieser Epoche zu berücksichtigen. Völlig neu ist, dass hier eine unterhaltsame, dekorative und amüsante Facette zugelassen wird, hinter der sich freilich häufig ein tieferer Sinn verbirgt (Cornelius’ „Faust“-Illustrationen, Ludwig Richters Märchenillustrationen und Wilhelm Buschs Bildergeschichten).
Von der Mitte des Jahrhunderts an entledigt sich die Zeichnung des Anspruchs, biblische, literarische oder andere narrative Elemente transportieren zu müssen. Der subjektive Blick des Künstlers kann sich auf die reine Form des Motivs konzentrieren. Künstler wie Leibl und Menzel („Studie zu einer jungen Frau“) fordern zum unabhängigen Sehen auf – „Sehen lernen ist alles!“ – und erzeugen erstaunliche Realitätsausschnitte. Der Mensch in seinem Alltagsleben und bei der Arbeit wird nun zum Gegenstand und kann in Zeichnungen mit der unmittelbaren Frische der Augenblicksbeobachtung festgehalten werden (Liebermanns „Nähende Mädchen“, Hodlers „Mäher“).
Nach einer Blüte der Bildniskunst in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, besonders unter Künstlern als Freundschaftsbild oder Selbstporträt (Peter Cornelius’ Bildnisse von Friedrich Olivier und Theodor Rehbenitz oder Selbstbildnis von Friedrich Nerly), wird die menschliche Figur zunehmend abstrakter behandelt, aus dem narrativen Kontext gelöst und mit allgemeingültiger Aussage dargestellt wie bei Hans von Marées (Kompositionsstudie „Alter Mann und Kinder“) und Käthe Kollwitz („Mutter und Kind“).
Die Ausstellung ist so gegliedert, dass sie die thematischen Schwerpunkte der Zeichenkunst im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Die Präsentation bietet die Möglichkeit, Entwicklungen durch das wechselvolle Jahrhundert hindurch zu verfolgen und Brüche nachzuvollziehen. Bei den behandelten Themen und Motiven nehmen die unterschiedlichsten Darstellungen von Landschaft den größten Teil ein, seien es Ideallandschaften wie die von Joseph Anton Koch oder Franz Kobell, Phantasielandschaften von traumähnlichem Charakter wie diejenigen Carl Blechens, topografische Reiseansichten wie die prachtvollen Aquarelle Carl Rottmanns („Santorin“) oder wiederkehrende Motive in Italien wie die „Villa Chigi“ von Ernst Fries, zu denen die große Schar der deutschen Landschaftskünstler pilgerte. Außerdem finden sich ausdrucksstarke Bildnisse etwa von Friedrich Olivier oder Lovis Corinth, religiöse und historische Szenen, beispielsweise auf den Kartons der Nazarener für die berühmten Fresken in der Casa Bartholdy und im Casino Massimo in Rom, sowie – als eine spätere Entwicklung im 19. Jahrhundert – Figurendarstellungen ohne narrativen Kontext etwa von Hans von Marées oder Louis Eysen. Eine eigene Sparte bilden Illustrationen wie die epochemachenden „Faust“- Illustrationen von Peter Cornelius und die Bildergeschichten Wilhelm Buschs.
Im Zuge der wissenschaftlichen Bearbeitung der Zeichnungen durch Dr. Marianne von Manstein wurden die einzelnen Zeichnungen von der Leiterin der Papierrestaurierung Ruth Schmutzler eingehend restauratorisch behandelt. Das Entfernen alter Montierungen machte im Lauf der Ausstellungsvorbereitung Rückseiten wieder sichtbar und ermöglichte so interessante Aufschlüsse über die einzelne Zeichnung, Arbeitsweisen des Künstlers oder den Werkkontext. Neue Erkenntnisse brachten auch alternative naturwissenschaftliche Untersuchungstechniken. In Kooperation mit der Universität Frankfurt wurde ein Infrarotgerät im Städel Museum, welches bisher vornehmlich bei Gemälden Verwendung fand, auch im Bereich der Arbeiten auf Papier eingesetzt. Bei mehreren Zeichnungen wurde erstmals die Technik der Infrarotreflektografie angewendet. Einige Blätter, die durch Überklebungen verdeckte Schichten aufweisen, konnten so mit erstaunlichem Erfolg untersucht werden. Bei der gezeigten Zeichnung Gustav Heinrich Naekes etwa wurde ein unter aufgeklebtem Papier liegender Bereich der Zeichnung sichtbar gemacht. Dadurch ergaben sich Erkenntnisse nicht allein zu konzeptionellen Änderungen an der Komposition, sondern auch zu Naekes gestalterischem Vorgehen. Hier wird sichtbar, wie der Künstler die nazarenische, linear abstrahierende Formensprache schrittweise von einem zunächst naturalistischen Erfassen des Motivs her entwickelt.
Kuratorin: Dr. Marianne von Manstein (Städel Museum)
Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt Ausstellungsdauer: 8. März bis 28. Mai 2012 Pressevorbesichtigung: Mittwoch, 7. März 2012, 11 Uhr
Öffnungszeiten: Dienstag, Freitag bis Sonntag 10–18 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10–21 Uhr Eintritt: 12 €, ermäßigt 10 €, Familienkarte 24 €; freier Eintritt für Kinder bis zu 12 Jahren; Gruppen ab 10 Personen: 10 €/Person Kartenvorverkauf unter: www.staedelmuseum.de
Katalog: „Freiheit des Sehens. Zeichenkunst von Kobell bis Corinth aus dem Städel Museum”, mit einem Vorwort von Max Hollein sowie Texten von Marianne von Manstein, ca. 250 Seiten, ca. 231 Abbildungen, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, ISBN 978-3-86568-662-6, € 34,90 Euro (Museumsausgabe). Überblicksführungen durch die Ausstellung: Mittwochs 19.30 Uhr, sonntags 12 Uhr. Führungsgebühr 5 Euro. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Tickets ab zwei Stunden vor Führungsbeginn an der Kasse des Städel Museums. Sonderführungen auf Anfrage unter: +49(0)69-605098-200 Weitere Programmangebote unter www.staedelmuseum.de