Magritte ist in erster Linie ein Ideenmaler, ein Maler von sichtbaren Gedanken und weniger von Materiellem. Seine antimodernistische Gegenständlichkeit, die der Avantgarde gegenübersteht, hat die Kunstgeschichte nicht formal, dafür umso mehr motivisch bereichert. In seinem geradezu antiformalistischen Œuvre geht er mit der Welt der Erscheinungen provozierend und verwirrend frei um. Die Gegenstände, die er malt, sind allesamt deutlich erkennbar und entstammen dem Banalen und Alltäglichen. Indem Magritte sie jedoch nach seiner poetischen Logik präsentiert, nach einer Ordnung, die sie in ein ganz neues Licht setzt und mit einer gänzlich neuen Kraft ausstattet, gerät ihre Bedeutung ins Wanken. Die Lesbarkeit der Motive kollidiert mit der Rätselhaftigkeit ihrer Kombination: Magritte führt zusammen, was nicht zusammen gehört. Wahrnehmung und Sehgewohnheiten des Betrachters werden von diesem Künstler als stillschweigend akzeptierte Übereinkünfte und Konventionen entlarvt, wenn er durch die Darstellung unerklärlicher Metamorphosen, durch die Verkehrung der Welt, die Transformation von Größenverhältnissen oder surrealen Gegenüberstellungen die Kausalität unseres Weltverständnisses auf den Kopf stellt. Innen- und Außenraum stehen in trügerischer Beziehung zueinander, Tag und Nacht kollidieren, Gegenstände und menschliche Körper verschmelzen, und je klarer wir jeden Gegenstand erkennen, umso rätselhafter wird das Mysterium der Wirklichkeit.
Magrittes Bilder sind von einer bedrückenden Atmosphäre erfüllt, einer kalten und emotionslosen Ästhetik des Dargestellten. Die Räume seiner Bilder sind von einer bürgerlichen Aufgeräumtheit und altmodischer Sauberkeit bestimmt – ein völlig unspektakuläres Ambiente, das doch jeden Moment zum Tatort werden kann.
In seinem umfassenden Œuvre, bestehend aus Gemälden, Papierarbeiten, Objekten, Fotografien und Kurzfilmen, greift Magritte auf eine begrenzte Anzahl sorgfältig gewählter Motive zurück, die er wiederholt, und in immer neuen Kombinationen zu komplexen surrealen Bildwelten zusammenfügt. Der grüne Apfel, die Pfeife, der Mann mit Melone, das Ei, der Felsen, der Vorhang, das Meer – einige Elemente beschäftigen Magritte immer wieder. Sie sind das Kontinuierliche in seinem Schaffen und sind zum Markenzeichen des Künstlers avanciert.
Magrittes einzigartiger Sprachwitz, der in fast all seinen Werken zum Ausdruck kommt, ist legendär. Zeichen und Bezeichnetes spielt er gegeneinander aus. Die Auseinandersetzung mit Sprache und unserem Sprachgebrauch nimmt bei ihm einen besonderen Stellenwert ein. Geprägt von den philosophischen Theorien vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Frage nach der Übereinstimmung unserer Wahrnehmung, ihrer verbalen Beschreibung und der tatsächlichen Erscheinung der Wirklichkeit, sucht Magritte in seinen Bildern nach Entsprechungen der Idee, ihrem Abbild und ihrer realen Existenz, wie in seiner berühmten Bildidee „Ceci n’est pas une pipe“.
Mit seiner Malerei beeinflusste Magritte die abstrakten künstlerischen Tendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie die Konzeptkunst und Pop Art der 60er Jahre bis hin zum analytischen Denken der Gegenwartskunst.
Mit dem Zusatz seiner frühen gebrauchsgrafischen Arbeiten, den fotografischen Experimenten sowie den späten bizarr-skurrilen Kurzfilmen gibt die Ausstellung in der Albertina Aspekte und Werkphasen von Magrittes Schaffen und entwirft zum ersten Mal ein umfassendes Bild von der Komplexität seiner surrealistischen Methode und der gleichzeitigen Kontinuität wiederholter Motivgruppen.
In 13 Kapiteln folgt die Ausstellung der chronologischen und inhaltlichen Entwicklung seiner Kunst: beginnend mit den vom Film und dem Collage-Prinzip inspirierten klassisch surrealistischen Bildern der 20er und 30er Jahre, über Experimente wie eine Renoir-Periode und Période vache der Nachkriegszeit, bis hin zu seinem Spätwerk mit den geheimnisvollen Tag-und-Nacht-Bildern der berühmten Serie Das Reich der Lichter sowie den „anonymen Porträts“ Melone tragender Männer.
Der große belgische Surrealist ist nicht zum ersten Mal mit seinen Werken zu Gast in Wien. Der gedankliche Reichtum und das allgegenwärtige Geheimnis in seinen Werken fordern es jedoch geradezu heraus, sein Schaffen stets aufs Neue zu durchleuchten, bisher vernachlässigte Aspekte zu entdecken und so den Blick auf sein Werk und unsere Wirklichkeit zu schärfen. Großzügige Leihgaben aus den bedeutendsten Museen moderner Kunst ermöglichen dies, darunter die Königlichen Museen in Brüssel (Magritte Museum), The Menil Collection, Houston, The Art Institute of Chicago, das San Francisco Museum of Modern Art, das Metropolitan Museum of Art, New York, das Museum of Modern Art, New York, das Utsunomiya Museum of Art, Japan, die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, das Kunsthaus Zürich und das Museo Thyssen- Bornemisza, Madrid sowie wertvolle Privatsammlungen aus aller Welt. Mit dem Gemälde Das verzauberte Reich (1953) besitzt die Albertina selbst ein Hauptwerk aus der Spätphase des Künstlers. Die Retrospektive René Magritte ist Teil eines aktuellen Schwerpunkts zur surrealistischen Kunst, den die Albertina 2008 mit der Ausstellung zu Max Ernsts Une semaine de bonté eingeleitet hat und mit der für 2013 geplanten Max-Ernst-Retrospektive oder der ab Ende November laufenden Präsentation surrealistischer Druckgrafik aus der New Yorker Sammlung Gilbert und Lena Kaplan fortsetzt.
Eine Ausstellung der Tate Liverpool in Kooperation mit der Albertina.
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