Alexander Rodtschenko (1891–1956) gehörte neben Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin zu den treibenden Kräften der russischen Avantgarde. In seinen Werken brachte er die dynamische Veränderung der Gesellschaft in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution ins Bild – und setzte dabei zahlreiche Medien ein. Das Bucerius Kunst Forum stellt nun erstmals nicht den politischen Auftrag ins Zentrum, sondern legt die künstlerische Haltung Rodtschenkos frei: Er war einer der ersten Künstler, der sich in Gemälden, Collagen, Photomontagen, Photographien, Skulpturen, Werbedesign und Typographie auszudrücken suchte. Die Retrospektive mit über 150 Werken aus internationalen Sammlungen bildet das gesamte avantgardistische Œuvre des Künstlers ab. Es ist seit über zehn Jahren die erste Ausstellung in Deutschland, die einen Überblick über die mediale Vielfalt von Alexander Rodtschenkos Schaffen gibt.„Er flog geradezu durch die Lüfte“, beschrieb Alexander Rodtschenko aus der Distanz sein Lebensgefühl im ersten Jahrzehnt nach der Russischen Revolution. In diesen Jahren hatte Rodtschenko seinen Kosmos erschaffen: Die Idee eines konstruktivistischen Erneuerungsmodells. Ein Gesamtkunstwerk, das den Menschen in den Mittelpunkt stellte und ihm die Zuversicht der Gestaltung einer neuen Zeit vermittelte. Alles schien möglich, weil alles verwandelt werden konnte. Die Vorstellung von einem Prozess fortwährender Transformation, in dem Bilder zu Räumen, Skulpturen zu Architektur werden und Photographie dem Menschen neue Perspektiven erschließen konnte. Indem er die künstlerischen Mittel isoliert wie durch ein Mikroskop betrachtete, entdeckte er eine neue künstlerische Vielfalt.
Der Mitbegründer des Konstruktivismus war 1917, bei Beginn der Revolution, 26 Jahre alt. Diese gab Rodtschenko den Anstoß, die künstlerische Tradition noch einmal neu zu überdenken. Er arbeitete fieberhaft und analysierte mit großer Experimentierfreude die ihm zur Verfügung stehenden Bildmittel. Rodtschenko ging es um nichts Geringeres, als die Welt mit der Kunst zu erklären. Die neue Zeit benötigte neue Perspektiven, wie sie Technik und Wissenschaft boten. „Die Zukunft unser einziges Ziel", lautete der Slogan der Avantgarde.
Die Ausstellung Rodtschenko. Eine neue Zeit widmet sich dieser Aufbruchsituation. Nach dem Ende der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts lässt sich auch das wegweisende Werk eines Künstlers wie Alexander Rodtschenko mit einem neuen Blick anschauen. Haben die Retrospektiven, mit denen Rodtschenkos Werk in den 1980er Jahren in Deutschland bekannt wurde, den politischen Auftrag ins Zentrum gestellt, so wird jetzt der Blick auf die künstlerische Haltung frei. Damals bewertete man Rodtschenkos Bruch mit der Malerei als Wechsel ins Angewandte. Heute wird deutlich, dass er einer der ersten Künstler war, der sich in einer Vielzahl an Medien auszudrücken suchte.
Seit frühester Kindheit hegte Rodtschenko diesen Wunsch. In St. Petersburg war er im Theater des Russischen Klubs am Newski-Prospekt aufgewachsen, für das sein Vater als Requisiteur tätig war. Er sah dem Vater zu, wie er mit einfachsten Mitteln eine neue Welt entstehen ließ, aus einem Graubrot ein Brathähnchen erschuf und Pappe in blitzende Schwerter verwandelte. Von hier rührt Rodtschenkos Offenheit gegenüber Materialien und Ausdrucksformen, die ihn zu künstlerischen Experimenten anregten, die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkten. Die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum stellt seine Erfindungen auf dem Gebiet der Malerei, seine Ausweitung des Experiments auf Skulptur und Architektur, auf Typographie und Design, auf Collage, Photomontage und Photographie vor Augen. Ihre kunstgeschichtliche Bedeutung liegt darin, dass hier innerhalb eines Werkes Entwicklungen vorweg genommen wurden, die in Europa und Amerika erst vom künstlerischen Neuanfang der 1960er Jahre eingeholt wurden: in monochromer Malerei, Minimalismus, Konzeptkunst und Medienvielfalt.
Die Ausstellung Rodtschenko. Eine neue Zeit erinnert an einen Höhenflug, dem schon bald ein Ende gemacht wurde. „Aber hier … endete der Flug“, notierte Rodtschenko im Jahr 1939. Der Künstler, dessen einziges Ziel die Zukunft war, zählte sich bald zur Vergangenheit. Schon 1928 wurde Rodtschenkos Einfallsreichtum als bürgerlicher Eskapismus, im Parteijargon „Formalismus“, ausgelegt. Die kommunistische Partei missbilligte die Nähe zur westlichen Avantgarde. Rodtschenkos internationales künstlerisches Renommee galt als suspekt. Der Wegbereiter der neuen Zeit wurde, so Rodtschenko, „schädlich und gefährlich.“ In Rodtschenkos Tagebüchern der 1930er Jahre liest man zwischen den Zeilen von den Repressionen der stalinistischen Kunstpolitik, wenn es heißt: „Ich kann nichts aufschreiben. Ich kann mir nur alles ausdenken.“ Nach Jahren eines rauschhaften kunstpolitischen Engagements im Kreis der Avantgarde wurde Rodtschenkos Künstlerexistenz zurückgeworfen auf die Rolle des fragilen Harlekin à la Beardsley – „eines einsamen Kindes“, als das er sich selbst empfand.
Die von Alla Chilova und Ortrud Westheider kuratierte Ausstellung versammelt über 150 Werke aus der Sammlung der Familie des Künstlers, der Tretjakow-Galerie, Moskau, der Sepherot Foundation, Liechtenstein, den Museen von Kirow, Tula und Astrachan, dem Museum Ludwig, Köln, dem Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg sowie weiteren russischen und deutschen Privatsammlungen.
Der Katalog mit Beiträgen von Hubertus Gassner, Alexander Lawrentjew, Bernhard Schulz, Irina Wakar, Ortrud Westheider und Isabel Wünsche erscheint im Hirmer Verlag.