Bei manchen Menschen reicht ein Talent für ein Leben nicht aus, sie brauchen deren zwei um die Dimension ihres kreativen Potentials auch nur annähernd bewältigen zu können. Das bildnerisch-schriftstellerische Doppeltalent Günter Grass gehört zu jenen schöpferischen Giganten Europas, dessen Werk und sozial-politisches Engagement als Künstler in Wort und Bild die künstlerische wie öffentliche Welt der letzten fünfzig Jahre entscheidend mitgeprägt hat. Der Fokus lag dabei hauptsächlich auf dem literarischen Ouevre, für welches Günter Grass viele Auszeichnungen und als Höhepunkt 1999 den Literaturnobelpreis erhielt.
Günter Grass, 1927 in Danzig geboren, ist jedoch zunächst ausgebildeter Steinmetz, studierte an der Kunstakademie Düsseldorf Graphik und Bildhauerei und war Schüler des Bildhauers Karl Hartung an der Hochschule für bildende Künste in Berlin.
1956/57 fanden erste Ausstellungen von Plastiken und Graphiken statt, denen bis dato zahlreiche weitere im In- und Ausland folgten.
Die bildgewaltige Seele sprach also zuerst, bevor sich der wortgewandte Geist-Intellekt hinzugesellte um daraufhin stets parallel oder im jeweiligen Werk gemeinsam in Erscheinung zu treten. Zeichnen und Schreiben fließen ineinander. Günter Grass’ literarisches Schaffen ist ohne das Zeichnen nicht denkbar. Dieser Tatsache Rechnung tragend, richtet die Wiener „kleinegalerie“ ihrAugenmerkaufdenbildendenKünstlerGünterGrassundzeigterstmalsin Österreich eine umfangreiche Ausstellung seiner Skulpturen, Lithographien und Radierungen, welche hierfür vom Kunsthaus Lübeck und der Stiftung Grass zur Verfügung gestellt werden.
Es ist kein Zufall, dass die „kleine galerie“ diesen großen künstlerisch-politischen Mahner und Rufer nach Wien holt, manifestiert sich doch in der seit 20 Jahren für Druckgraphik bekannten Wiener Stadtgalerie ein neuer Geist in einem künstlerischen Konzept, welches durch einen positiven Begriff des Politischen im Sinne der Polis - einer sozialen Gemeinschaft, welche durch Ehrlichkeit, Integrität, Kultur, Qualität und Ethik geprägt ist, jenen inneren Werten, aus welchen auch nachhaltige äußere Wertschöpfung erfolgen kann.
Bei Günter Grass kommt man in Berührung mit einem kreativen Giganten, mit jener sprudelnden Quelle ununterbrochener Inspiration, jener überwältigenden, manischen Schöpferkraft, die das Lebensprinzip selbst repräsentiert, jenen Weltschöpfungsprozeß der nie abgeschlossen ist, sondern stetig fortdauert und in welchem der kreative Mensch sich als Kanal und Instrument zur Verfügung stellt. Der Künstler ist damit ein “Ergriffener” und als solcher muss er schöpferisch sein, trotz aller Widrigkeiten.
Die Fülle, Dichte und Vielfältigkeit des literarischen wie bildenden Werkes von Günter Grass, welches außerdem noch ineinandergreifend und wechselwirkend besteht, spiegelt und bannt gleichzeitig die Reichhaltigkeit, Komplexität und Vernetztheit unserer Welt und ihrer Phänomene.
Günter Grass erweist sich in seinem Werk als scharfer Beobachter. Als graphischer Mensch ist er dem Intellekt zugeordnet, denn das graphische Element betont die Struktur der Dinge, ihre Zusammensetzung, ihr Ordnungssystem, nicht ihre Sinnlichkeit.
Im ernsten, nachdenklichen, genauen Beobachten zeichnet Günter Grass das, was ihm vor Augen liegt, er beschreibt das Leben als das, was es ist, dual und in zweifachem Sinne als Spiel von Licht und Schatten wofür sich das Schwarz-Weiß der Graphik bestens eignet. Er zeichnet nachdrücklich detailliert, minutiös und naturgetreu, er urteilt nicht, selektiert aber genau Ausschnitt, Motive und deren Zusammensetzung aus der Fülle der optischen Eindrücke, fasziniert von Wort, wie Bildformen und Strukturen und ihren mannigfaltigen kreativen Verknüpfungsmöglichkeiten. Aus unendlichen Verbindungen, Assoziationen und Querbezügen spinnt sich ein Netz, an dessen Kreuzungspunkten sich das künstlerische Werk manifestiert; phantastisch, surreal oder symbolgeladen, real, naturalistisch, karikaturhaft oder zart berührend.
Günter Grass schreibt mit dem Stift und er zeichnet mit den Worten. In verfließenden Grenzen dient das kalligraphische „Schriftbild in den beschrifteten Bildern“ nicht nur einer Fortsetzung der graphischen Linie, sondern legt sich wie ein verbindendes Netzwerk über die Einzelteile der Kompositionen. Hier zeigt sich das Wissen des Künstlers um das zugrundeliegende Lebensnetzwerk, aus dem unabdingbar sein Ruf nach Humanität, Freiheit und Solidarität, nach Mitgefühl und Achtsamkeit erwachsen muss.
Zu den vielfältigen Aufgaben der Kunst zählt nämlich unter anderem immer noch das Aufrütteln und Aufscheuchen schläfrig gewordener Herzen.Der Künstler selbst geht jedoch nie in eine emotionale Identifikation, er bleibt wachsamer Beobachter, auch Beobachter seiner selbst, Als solcher erscheint er porträthaft immer wieder zwischen oder in seinen Motiven. Ein großer Teil der für die Ausstellung ausgewählten Lithographien entstammt dem Märchenzyklus “Der Schatten“, benannt nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen, zu dessen 200. Geburtstag der Künstler die Märchen neu erzählt und illustriert hat. Andersens Märchenfiguren werden von Günter Grass durch den cremig-weichen und geschmeidigen Lithostrich anmutig belebt. Ruhig, sicher und liebevoll zeigt sich der Strich im Auf- und Abschwellen der Taille in seiner ganzen ornamental-kalligraphischen Schönheit. Bewegung, etwa von tanzenden Paaren, wird bei Günter Grass durch staccatoartige Trommelwirbelstriche suggeriert.
Die Radierungen zeigen der Ätztechnik gemäß, punktgenaues, sehr feines, exaktes und intensiv-strichdichtes Arbeiten. Trotz der oft ungewöhnlich kombinierten Motive bezeugen die Schönheit der Formen und der graphischen Linien, dass Günter Grass dabei nie die ästhetische Ebene verlässt. Er ist und bleibt der Beobachter.Die durch Glätte und Undifferenziertheit ihrer Oberflächen wie gemodelt wirkenden Bronzeskulpturen haben tatsächlich ihren Ursprung in Tonfiguren die Günter Grass Anfang der 80er Jahre zu modellieren begann. Er bediente sich dabei des Motivschatzes seiner Romane oder inspirierte sich an Fundsachen. Gezeigt werden u.a. miteinander verschmolzene Tanzpaare, die sich schwerfällig, mit ausgeprägter Bodenhaftung, durch den Raum zur Materie schieben. Sie bezeugen erneut, nun im dreidimensionalen Bereich, die Liebe des Künstlers.
Die Frage nach der Transzendenz im Werk von Günter Grass beantwortet sich im buddhistischen Sinne: „Es gibt nichts außer Brahman, die Welt ist Brahman“.
(Dr. Waltraud Schwarzhappel, Kunsthistorikerin)
Biografie Günter Grass1927: Günter Grass wird am 16. Oktober in Danzig als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. ab 1947: Praktikum als Steinmetz in Düsseldorf.ab Winter 1948-52: Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie bei den Professoren Sepp Mages und Otto Pankok.1953-56: Umzug nach Berlin. Schüler des Bildhauers Karl Hartung an der Hochschule für Bildende Künste1956: „Die Vorzüge der Windhühner“, Gedichte und Grafiken. Umzug nach Paris. Erste Ausstellung von Plastiken und Grafiken in Stuttgart.1957: Uraufführung des Stückes „Hochwasser“ an der Frankfurter Studentenbühne. Uraufführung des Balletts „Stoffreste“ an den Städtischen Bühnen Essen. Eine weitere Ausstellung von Plastiken und Grafiken in Berlin.1959: Der Roman „Die Blechtrommel“ erscheint. Das Ballett „Fünf Köche“ wird in Aix-les-Bains und Bonn uraufgeführt. Bremer Literaturpreis wird von der Jury zuerkannt, doch vom Senat nicht verliehen.1960: „Gleisdreieck“, Gedichte und Grafiken. Rückkehr von Paris nach Berlin.1961: „Katz und Maus“, Novelle. Das Stück „Die bösen Köche“ wird in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters uraufgeführt. Unterstützung für Willy Brandt im Wahlkampf der SPD.1967: „Ausgefragt“, Gedichte und Zeichnungen.1972: „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“. Beginn der Zusammenarbeit mit der Galerie und Radierwerkstatt Anselm Dreher/Galerie Andre.1973: „Mariazuehren“, Gedichte und Grafiken, mit Fotos von Maria Rama. Reise mit Willy Brandt nach Israel. Reise in die USA.1974: „Liebe geprüft“, sieben Radierungen und Gedichte (Schünemann, Bremen).1976: „Mit Sophie in die Pilze gegangen“, Lithographien und Gedichte (Giorgio Upiglio, Mailand).1977: „Der Butt“, Roman. “Als vom Butt nur die Gräte geblieben war”, sieben Radierungen und Gedichte (Galerie Andre, Berlin). Beginn der Zusammenarbeit mit dem Drucker Fritze Margull.1979: „Das Treffen in Telgte“, Erzählung.1980: „Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“.1982: „Zeichnen und Schreiben“, Band 1 (Zeichnungen und Texte, 1954-1977). Mappe „Vatertag“, 22 Lithographien (Edition Monika Beck, Hamburg).1983: „Ach Butt, dein Märchen geht böse aus“, Gedichte und Radierungen. 1984: „Zeichnen und Schreiben“, Band 2 (Radierungen und Texte, 1972-1982).1986: „Die Rättin“. „In Kupfer, auf Stein“, Werkverzeichnis der Radierungen und Lithographien. August 1986 bis Januar 1987 Aufenthalt in Calcutta.1988: „Mit Sophie in die Pilze gegangen“. „Zunge zeigen“. „Calcutta“, Mappe mit Radierungen. 1989: „Skizzenbuch“. „Zum Beispiel Calcutta“.1990: „Totes Holz“. „Kahlschlag in unseren Köpfen“, Lithographiemappe.1991: „Vier Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht.“1992: „Unkenrufe“, Erzählung..1993: „Novemberland“ (13 Sonette). Der Steidl Verlag übernimmt die Weltrechte am Werk von Günter Grass.1995: „Ein weites Feld“, Roman.1996: Grass wird mit dem Sonning-Preis ausgezeichnet, der höchsten kulturellen Auszeichnung Dänemarks. Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster. Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck.1997: „Fundsachen für Nichtleser“, Aquarelle und Gedichte.1999: „Auf einem anderen Blatt“, Zeichnungen. „Mein Jahrhundert“ erscheint in zwei Fassungen – als Textausgabe und in einer großformatigen mit Aquarellen des Autos illustrierten Ausgabe. Literaturpreis „Premio Principe de Asturias“ in Oviedo. Literaturnobelpreis des Jahres 1999.2001: „Mit Wasserfarben“, Aquarelle.2002: „Im Krebsgang“, Novelle. „Gebrannte Erde“, Plastiken. Eröffnung des Lübecker „Günter Grass-Hauses“, das als Forum für Literatur und Bildende Kunst bestimmt ist.2003: „Letzte Tänze“, Gedichte und Zeichnungen.2004: „Lyrische Beute“, ausgewählte Gedichte und Zeichnungen. „Der Schatten. Hans Chrstian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass“, dreißig Märchen von H.C. Andersen mit Zeichnungen von Günter Grass. „Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht“ (ergänzte Ausgabe von „Vier Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht“).2005: Hans Christian Andersen-Preis der Stadt Odense. 2006: „Beim Häuten der Zwiebel“, ein Erinnerungsbuch. 2007: „Dummer August“, Gedichte und Zeichnungen. 2008: „Die Box“, biografische Erzählung2009: „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland – Tagebuch 1990“
Die Ausstellung ist bis Donnerstag, den 17. November 2016 zu sehen.Öffnungszeiten: Dienstag – Freitag von 11 – 19 Uhr, Sa nach Terminvereinbarung
Copyright © 2024 findART.cc - All rights reserved